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Pastworld

Pastworld

Titel: Pastworld
Autoren: Ian Beck
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er leise.
    Abends nahmen wir ein kaltes Abendessen aus Hammelfleisch, eingelegtem Gemüse und Brot zu uns. Wir aßen schweigend. Unser Besteck klapperte auf den Tellern. Jack atmete schwer und sah mich nicht an.
    Seit diesem Tag befindet Jack sich in einem wachsamen und beunruhigten Zustand.
    »Er wird sie holen kommen«, hatte der vornehme Gast gesagt, »und dann bist du im Weg.« Wer wird mich holen kommen? Ich wünschte, es könnte sich um meinen Retter handeln. Endlich käme mein edler Ritter auf seinem weißen Pferd. Dem furchtsamen Ausdruck auf Jacks Gesicht zufolge, scheint es sich allerdings eher um unser Verderben zu handeln. Um einen bösen Zauberer, eine ganz andere Art des namenlosen Reiters, der den armen Jack umbringen und mich mitnehmen wird. Diese Vorstellung erregt und ängstigt mich zugleich. Sie hat sich in meinem Kopf festgesetzt und jetzt weiß ich, was ich tun muss. Ich muss mich und den armen Jack um jeden Preis vor diesem Schicksal in Sicherheit bringen.
    Jack verbringt seine Tage mit dem Brüten über der Tageszeitung und dem Wochenmagazin. Mit zitternder Hand hält er seine Lupe über die Seiten, so dicht an der Lampe wie möglich. Offensichtlich sucht er nach etwas. Aber er will mir nicht sagen, was es ist. Beim Lesen murmelt er vor sich hin: »Phantom, alles über das Phantom« und »Meine verdammten schlechten Augen«.
    Ich habe mich entschieden. Morgen werde ich einfach gehen. Ich werde verschwinden, weglaufen und mein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Wenigstens möchte ich Jack von seinen Ängsten erlösen, von der Gefahr des Entdecktwerdens und der Vernichtung. Ich werde aus dem hohen Turm flüchten und Jack keine weitere Verantwortung aufbürden.
    So etwas habe ich nie zuvor getan: Ich werde das Haus verlassen und weglaufen, ganz allein.
    Ich habe es geschafft und es ist so viel passiert. Ich muss alles genau der Reihe nach aufschreiben. Am Morgen, nachdem ich beschlossen hatte wegzulaufen, schaute ich über die Dächer. In der Nacht hatte es geschneit und die dicke, weiche Schneedecke hatte sich gleichmäßig wie ein Bettlaken auf den Dachziegeln ausgebreitet. Ich öffnete das Dachfenster ein wenig, atmete die kalte Luft ein und freute mich voller Spannung auf die Flucht in den hellen, weißen Morgen.
    Ich hatte sorgfältig geplant, was ich mitnehmen wollte. Ich müsste mich warm einpacken, deshalb nahm ich meinen Wintermantel vom Kleiderbügel und entfernte das Kampfersäckchen, das ihn gegen Motten schützte. Ich packte eine kleine Ledertasche mit Kleidung zum Wechseln und meinem ganzen Geld aus dem Spartopf. Dann versteckte ich Mantel und Tasche hinter einem Sessel im Wohnzimmer.
    Jack ging früh zum nahe gelegenen Kaufmannsladen und kam bald mit einer Packung Tee und ein paar Speckscheiben zurück. Als er sich den Schnee vom Mantel klopfte, sagte er: »Meine Güte, es ist wirklich kalt draußen heute, Eve«, und dann entfaltete er wie üblich die Morgenzeitung und studierte sie im hellen Licht des Fensters.
    Ich kochte eine Kanne starken Tee, machte ein paar Scheiben Toast und briet den Schinken für unser Frühstück. Ich sagte: »Soll ich dir heute Morgen noch etwas vorlesen?«
    »Ja, das wäre schön, aber nichts mehr von Mr Sherlock Holmes, der ist mir etwas zu brutal, lieber etwas von Mr Dickens.« Nach dem Frühstück machte er es sich in seinem hochlehnigen Armsessel gemütlich und legte die Füße auf ein Bänkchen. Er kreuzte die Arme über seinem runden Bauch und nickte mir zu, dass ich anfangen könnte.
    »Große Erwartungen. Kapitel 1.
    Da meines Vaters Familienname Pirrip und mein Vorname Philip ist, konnte meine kindliche Zunge beide Namen nicht länger und genauer aussprechen als Pip. So nannte ich mich Pip und wurde auch von anderen Pip genannt …«
    Als ich etwa eine Stunde lang gelesen hatte, sah ich, wie Jacks Augenlider immer schwerer wurden und langsam zufielen. Dann begann das vertraute kleine Schnorcheln und Röcheln seines Schnarchens und ein paar Seiten weiter war Jack fest eingeschlafen. Ich las weiter und zog dabei den Zettel aus meinem Leibchen, den ich vorher schon geschrieben hatte. Ich lehnte ihn gegen die braune Teekanne mit dem inzwischen kalt gewordenen Tee.
    Lieber Jack,
    ich gehe weg.
    Mach dir keine Sorgen um mich.
    Such mich nicht.
    Pass gut auf dich auf.
    In Liebe, deine Eve.
    Immer noch laut lesend, kämpfte ich mich mit einer Hand in meinen warmen Wintermantel und hob die Tasche auf. Dann hörte ich auf zu lesen, legte das Buch weg,
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