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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan
Autoren: Rot ist mein Name
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wobei
ich nicht das von Firdevsi, sondern das von Nizami beschriebene meine:
    Nach vielen stürmischen Abenteuern
heiraten die Liebenden, Şiruye
aber, der Sohn aus Hüsrevs vormaliger Ehe, ist von teuflischer Art und gönnt
den beiden keine Ruhe. Er, der Kronprinz, begehrt den Thron und Şirin, die junge Frau seines
Vaters. Şiruye, von dem
Nizami sagt: »Sein Mund stank wie das Maul der Löwen«, findet einen Weg, den
Vater zu entmachten und sich den Thron anzueignen. Dann dringt er eines Nachts
in das Gemach Hüsrevs und Şirins
ein, ertastet die beiden Schlafenden im Dunkeln und stößt dem Vater seinen
Dolch in die Brust. Des Vaters Blut wird bis zum Morgen fließen, und er wird in
jenem Bett sterben, das er mit der schönen, friedlich neben ihm schlummernden Şirin teilte.
    Das Bild des großen Meisters Behzat
beschrieb auch eine echte Furcht, die ich bis zu dieser Geschichte jahrelang
mit mir herumgetragen hatte: das Entsetzen darüber, in der mitternächtlichen
Dunkelheit zu erwachen und an einem leisen Knistern erkennen zu müssen, daß
sich noch ein anderer in dem Raum befindet! Und stellt euch vor, dieser andere
hält einen Dolch in einer Hand und greift mit der anderen nach eurer Kehle! All
die feinen Ornamente der Wände, Fenster und Rahmen des Gemachs, die Falten und
Rundungen des Teppichs in der gleichen roten Farbe wie der lautlose Schrei,
der aus eurer zusammengepreßten Kehle dringt, und all die mit unglaublicher
Feinheit und Liebe gestickten gelben und purpurnen Blumen der herrlichen
Steppdecke, auf die jener, der euch umbringt, erbarmungslos seinen ekligen
nackten Fuß setzt – sie alle dienen einem Zweck: Während sie einerseits die
Schönheit des Bildes hervorheben, das ihr betrachtet, erinnern sie
andererseits daran, wie schön das Gemach ist, in dem ihr gerade am Sterben
seid, welch ein schöner Ort die Welt ist, die ihr jetzt verlassen müßt. Der
eigentliche Sinn aber, der euch beim Betrachten des Bildes aufgehen wird, liegt
in der Bedeutungslosigkeit eures Todes für die Schönheit des Bildes und der
Welt, ist die Einsamkeit eures Sterbens, auch wenn euer Eheweib neben euch
liegt.
    »Es ist Behzats Werk«, hatte der
alte Meister zwanzig Jahre zuvor gesagt, während wir das in meinen zitternden
Händen liegende Buch gemeinsam betrachteten. Sein Gesicht war erleuchtet gewesen,
nicht von der nahen Kerze, sondern von dem freudigen Genuß des Anschauens. »Es
ist so sehr Behzat, daß es keiner Signatur bedarf.«
    Weil dies auch Behzat bewußt gewesen
war, hatte er seine Signatur nicht einmal in ein heimliches Eckchen des Bildes
gesetzt. Hier zeigte sich, so meinte der alte Meister, Scham und Schüchternheit
Behzats. Wahre Meisterschaft und wahres Talent erschaffen ein unerreichbares
Wunderwerk der Illustration, hinterlassen aber keinerlei Spur, welche die
Person des Illustrators verraten könnte.
    Ich habe mein Opfer in höchster Not
auf eine gewöhnliche, grobe Art getötet. Immer wenn ich nachts an diese
Brandstätte kam, um zu erforschen, ob von meinem Werk irgendeine verräterische
Spur zurückgeblieben war, begannen die Fragen des Stils sich in meinem Kopf zu
überstürzen. Diese Stil genannte Sache, auf der man so beharrt, ist nichts als
ein Fehler, der uns dazu bringt, einen Hinweis auf unsere Person zu
hinterlassen.
    Auch ohne die Helligkeit des
fallenden Schnees hätte ich hierher gefunden: an diese Brandstätte hier, an der
ich einen ermordet habe, der fünfundzwanzig Jahre lang mein Freund gewesen ist.
Der Schnee hat alle Spuren zugedeckt, die man als meine Signatur erkennen
könnte. Was beweist, daß Allah, wo es um Stil und Signatur geht, mit mir und
Behzat einer Meinung ist. Wenn wir Illustratoren vier Nächte zuvor bei der
Arbeit an dem Buch wirklich eine unverzeihliche – wenn auch unbewußte – Sünde
begangen hätten, wie der Dummkopf behaupten wollte, hätte uns Allah diese Liebe
nicht bewiesen.
    Als ich in jener Nacht mit Fein
Efendi an diese Brandstätte kam, fiel noch kein Schnee. Wir hörten nur aus der
Ferne das Echo von Hundegeheul.
    »Warum sind wir hierhergekommen?«
fragte der Ärmste. »Was wirst du mir zeigen, hier, um diese Zeit?«
    »Vorn ist ein Brunnen, und zwei
Schritte weiter habe ich seit Jahren gespartes Geld vergraben«, sagte ich.
»Wenn du niemandem weitersagst, was ich dir erzählt habe, werden dir der Oheim
und ich eine Freude machen.«
    »Das heißt also, du gibst zu, von
Anfang an gewußt zu haben, was du tust«, erklärte er aufgeregt.
    »Ich gebe
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