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orwell,_george_-_1984

Titel: orwell,_george_-_1984
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dieser physischen Krisen hätte eine Warnung sein sollen, doch er deutete sie als Herausforderungen und beantwortete sie mit Werken von immer größerem Format und Gewicht.
    Die letzte Warnung kam drei Jahre vor seinem Tode. Damals konnte es keinen Zweifel mehr geben, daß sich die Spanne seines Lebens nur verlängern ließ, wenn er eine geborgene Existenz unter ständiger ärztlicher Fürsorge führte. Statt dessen zog er zusammen mit seinem kleinen Adoptivsohn auf eine einsame und sturmgeplagte Insel der Hebriden, wo er nicht einmal die Hilfe einer Zugehfrau zur Verfügung hatte. Unter diesen grimmigen äußeren Umständen ist seine grimmige Vision vom Jahre 1984 entstanden. Kurz nachdem er das Buch abgeschlossen hatte, wurde er bettlägerig und erholte sich nicht mehr bis zu seinem Tode. Wenn er dem Rat seiner Ärzte gefolgt wäre und in der selbstverzärtelnden Atmosphäre eines Schweizer Sanatoriums gelebt hätte, wäre sein Meisterwerk ungeschrieben geblieben. Und das gleiche gilt für alle seine früheren Bücher. Orwells Größe lag in der totalen Zurückweisung jeden Kompromisses.
    Der innere Drang des Genies kann nur selten mit der Stimme der Vernunft in Einklang gebracht werden. In Orwells Leben siegte das Genie über die Vernunft. Denn heute ist es wirklich Zeit, um anzuerkennen, daß George Orwell das einzige Genie unter den revolutionär angehauchten Literaten Englands zwischen den beiden Weltkriegen war. Der Satz, den Cyril Conolly in bezug auf ihre gemeinsamen Jahre im Internat geprägt hat: »Ich war ein Theaterrevolutionär, Orwell dagegen ein echter«, dieser Satz gilt nicht nur für den ehemaligen Herausgeber von Horizon, sondern für Orwells ganze Generation.
    »Animal Farm« und »1984« sind Orwells letzte Werke. Seit »Gullivirs Reisen« ist keine Parabel geschrieben worden, die es an Tiefe und beißendem Spott mit »Animal Farm« aufnehmen kann; seit Kafkas »In der Strafkolonie« keine Phantasie, die dem logischen Grauen von »1984« gleichkäme. Ich glaube in der Tat, daß die künftige Literaturgeschichtsschreibung Orwell gewissermaßen als das fehlende Glied in der Kette zwischen Swift und Kafka betrachten wird. Denn es kann durchaus möglich sein – um noch einmal Cyril Conolly zu zitieren –, daß »für die Gärten des Abendlandes die Sperrstunde geschlagen hat und daß man von nun an einen Künstler nur nach dem Echo seiner Einsamkeit, dem Maß und der Würde seiner Verzweiflung beurteilen wird«. An diesem Maßstab gemessen, kann man Orwells Einsamkeit und Verzweiflung wirklich nur mit Kafka vergleichen – doch mit einem Unterschied: Orwells Verzweiflung hatte gleichsam eine konkrete, durchorganisierte Struktur und projizierte sich von der Ebene des Individuums auf die der Gesellschaft. Und während andererseits der Satz »Vier Beine gut, zwei Beine schlecht!« echt swiftischen Geist atmet, so besteht doch auch hier ein Unterschied: Orwell hat niemals ganz seinen Glauben an die armen Yahoos mit ihren groben und häßlichen Gesichtern und ihren schlechten Zähnen verloren.
    Hätte er sich selbst eine Grabinschrift ausgesucht, dann würde er wahrscheinlich die folgenden Zeilen aus der Revolutionshymne des Alten Majors gewählt haben, die, wie es in »Animal Farm« heißt, »nach einer mitreißenden Melodie, etwa in der Mitte zwischen »Clementine« und »La Cucaracha« gesungen werden soll«:
    Halfter, Stricke werden faulen
    Nasenringe endlich fallen.
    Zaum und Sporen ewig rosten
    Und die Peitsche nie mehr knallen.
    Diesem Tag gilt unser Streben –
    Kuh und Pferd und Gans und Schwein –
    Selbst wenn wir ihn nicht erleben,
    Unser Ziel muß Freiheit sein.
    Irgendwie glaubte Orwell wirklich an dieses heilige Recht von Kuh und Pferd und Gans und Schwein. Und gerade dieser kuriose Glaube war der Leitstern für des Rebellen Pilgerfahrt und machte ihn, ohne daß er sich dessen je bewußt geworden wäre, zu einer so überaus liebenswerten Gestalt.
    A RTHUR K OESTLER
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