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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld
Autoren: Ann Cleeves
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dem gleichen Weg, den Abigail zehn Jahre zuvor genommen hatte.
    «Als ich meine Jacke holen ging, stand er beim Auto. Das war ein fürchterlicher Schock. Es war genau so, wie ich es Ihnen gesagt habe. Ich machte die Scheinwerfer an, und da war er. Er hat sehr gefroren. Er hatte schon lange gewartet. Sah aus wie ein Landstreicher. Ich habe ihn kaum erkannt. Er sagte, sein Vater hätte Abigail umgebracht. Ich sagte ihm, dass das lächerlich wäre, dass es nicht stimmte. Dann zog er sein Handy aus der Tasche und sagte, er würde jetzt die Polizei anrufen. Ich musste ihn doch aufhalten. Natürlich wollte ich ihn nicht umbringen.»
    Wirklich nicht?, dachte Vera, nicht so recht überzeugt. War es wirklich noch ein Unfall? Wie bei Abigail? Es ist viel einfacher, einen toten Sohn zu lieben als einen lebendigen, der alles kaputtmacht.
    «Aber er war Ihr Sohn», sagte sie und vergaß erneut die Regel, auf Distanz zu bleiben. «Und Sie sind danach bei Ihrer Geschichte geblieben. Als wir am nächsten Tag mit Ihnen gesprochen haben, waren Sie ganz ruhig.»
    «Es war das größte Opfer, das eine Frau bringen kann», sagte Mary. «Ich habe es getan, um Robert zu beschützen, um den Rest der Familie zusammenzuhalten. Ich konnte doch nicht zulassen, dass das Opfer umsonst gebracht wurde.»
    Unsinn. Du hast Panik gekriegt und wolltest dich selbst beschützen. «Womit haben Sie ihn erschlagen?»
    «Im Auto lag eine Taschenlampe. So eine lange, schwere. Er hat sich umgedreht, weil er die Polizei anrufen wollte. Da schlug ich zu. Er fiel in den Graben. Er ist unglücklich gefallen. Man konnte nur noch diesen fürchterlichen Anorak sehen. Ich habe ihn anders hingelegt, sodass er friedlicher aussah. Er atmete nicht mehr. Das habe ich nachgeschaut. Niemand hätte ihn noch retten können. Und er war ja nicht glücklich. Er war später nie mehr so glücklich, wie er es als kleiner Junge gewesen war.»
    «Was haben Sie mit der Taschenlampe gemacht?»
    Die Frage schien sie zu überraschen. «Es war Blut dran. Ich habe sie an seinem Anorak sauber gewischt. Der war ja sowieso dreckig. Dann habe ich sie in meine Tasche getan.»
    Und ich habe zugelassen, dass du sie mitnimmst, dachte Vera. Ich wusste, dass wir euer Auto durchsuchen müssen, aber euch haben wir nicht durchsucht. Ich dachte, du wärst so erschüttert, dass du das nicht ertragen könntest. Wie lange werde ich wohl brauchen, um darüber hinwegzukommen? Sie überlegte schon, ob es wohl irgendeinen Weg gab, dieses Detail im Abschlussbericht wegzulassen.
    Da merkte sie, dass Emma weinte. Sie machte keinen Laut, doch die Tränen kullerten ihr die Wangen hinunter.

Kapitel sechsundvierzig
    Vera erwischte Dan Greenwood in Wendys Cottage auf der Landspitze. Sie fand, dass sie noch etwas Erfreuliches verdient hatte, bevor sie nach Hause fuhr. Es war der nächste Morgen. Sie hatte sich gar nicht erst schlafen gelegt. Die Nacht war zu einem einzigen Albtraum verschwommen. Sie erinnerte sich noch daran, wie Robert in Springhead House neben der Küchentür stand, als sie seine Frau in die eiskalte Nacht hinausführten. «Eines Tages, Mary, werde ich dir hoffentlich vergeben können.» Was sollte das denn bloß? Eine grandiose theatralische Geste, die doch nur sagte:
Scheiß drauf
. Sie hätte ihn zu gerne auch vor Gericht gebracht, aber Ashworth überzeugte sie davon, dass sie keine Handhabe dafür hatten. Winter hatte keinen Sexualverkehr mitZoe Sullivan gehabt. In dem Punkt war sich die Mutter ganz sicher gewesen. Und wahrscheinlich auch nicht mit Abigail. Es blieben zwei Morde, begangen wegen nichts weiter als den Phantasien eines Mannes im mittleren Alter, der seine Würde verloren hatte. Ein Mann im mittleren Alter, der seine Würde verloren hatte, und eine Frau im mittleren Alter, die ihren Verstand verloren hatte. Er würde am Sonntag wieder in der Kirche stehen, und die alten Damen würden sich zweifellos um ihn scharen und ihm selbstgekochte Suppe und ihr Mitgefühl zu Füßen legen.
    Wendy machte die Tür auf. Sie war noch im Bademantel.
    «Ich würde gern mit Greenwood sprechen», sagte Vera.
    Wendy zögerte.
    «Erzählen Sie mir bloß keinen Quatsch. Ich weiß, dass er hier ist. Emma Bennett hat euch gestern Abend zusammen in der Töpferei gesehen.»
    «Die arme Emma», sagte Wendy. «Ich glaube, sie war ein bisschen in ihn verschossen.»
    «Erzählen Sie das bloß nicht dem guten Danny. Sie wollen doch nicht, dass er sich was darauf einbildet. Er steckt übrigens nicht in
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