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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld
Autoren: Ann Cleeves
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antworten, dass sie einen schrecklichen Fehler gemacht hätte, so spät am Abend herzukommen und die Vergangenheit heraufzubeschwören. Das Schweigen schien Stunden zu dauern. Dann sprach Mary, und was sie sagte, war so wohlüberlegt wie immer. Sie wollte die Geschichte auf ihre Weise erzählen.
    «Es war so laut. Lauter als die Krähen und der Wind. Selbst da draußen, wo meilenweit nichts ist, hatte ich Angst, jemand könnte es hören.»
    «Sie wollten, dass sie still ist.»
    «Ja», sagte Mary. «Ich wollte, dass der Lärm aufhört.»
    Die Tür ging auf, und Ashworth kam leise in die Küche. Mary bemerkte es nicht.
    «Vielleicht sollten wir später darüber sprechen», sagte Vera. «An einem anderen Ort. In Gegenwart eines Anwalts, der dafür sorgt, dass Ihre Interessen gewahrt werden.»
    «Ich möchte es Ihnen gern jetzt erzählen.» Ihre Stimme klang flehentlich.
    «Ich sollte Sie warnen, dass man Sie anklagen wird und dass alles, was Sie sagen   …»
    «Das weiß ich alles», unterbrach Mary sie ungeduldig. «Aber ich will, dass Sie es erfahren. Bevor irgendjemand anders mir Worte in den Mund legt   …»
    «Lassen Sie sie reden», sagte Emma. «Ich muss es hören.»
    «Dann reden Sie weiter.»
    «Abigail hat die ganze Zeit gelacht. Plötzlich kam es mir so würdelos vor, da zu stehen und das Mädchen anzuschreien. Ich streckte die Hände aus, um sie zum Aufhören zu bringen, ich wollte nicht mehr brüllen. Ich erwischte die beiden Enden ihres Schals und zog daran. Zuerst, damit sie mir zuhörte. Damit sie mich ernst nahm. Dann war sie still und schlaff, und ich konnte die Krähen wieder hören und den Wind. Ich ließ sie da liegen und ging heim. Die nassen Schuhe und die Jacke zog ich aus und stopfte sie in den Schrank unter der Treppe. Dann ging ich in die Küche. Niemand hatte mich vermisst. Ich dachte ja nicht, dass sie tot ist. Ich dachte, ich hätte ihr einen Schrecken eingejagt, und sie war doch jung und gesund und würde zurück zur Alten Kapelle laufen.»
    «Das haben Sie nicht ernsthaft geglaubt», sagte Vera. «Schließlich sind Sie Emma nach draußen gefolgt.»
    «Ich war mir nicht sicher. Ich wollte nicht, dass Emma Abigail findet und ganz allein ist. Ich hielt es wohl für möglich, dass ich sie umgebracht hatte.»
    «Und Robert haben Sie das nie erzählt?»
    «Ihm war nicht einmal klar, dass ich wusste, dass er sich mit ihr trifft. Er dachte, es wäre ein großes Geheimnis.»
    «Warst du denn nicht wütend, dass er sich ihretwegenlächerlich gemacht hat?», fragte Emma. «Warst du nicht eifersüchtig?»
    «Er konnte doch nicht anders», sagte Mary. «Und er hatte so viel zu geben. So viel wohltätige Arbeit, die noch ungetan war.»
    Wieder herrschte Stille. Vera wusste, dass sie eigentlich weitermachen sollte. Das war eine der Regeln, die sie an Ashworth weitergegeben hatte:
Lassen Sie nicht zu, dass sie Ihnen nahegehen. Was immer sie auch getan haben, Sie dürfen es sich nicht zu Herzen nehmen. Sonst werden Sie verrückt.
Doch eine unnötige Frage gestattete sie sich. «Wie konnten Sie zulassen, dass Jeanie ins Gefängnis kam?»
    «Darüber konnte ich nicht nachdenken. Ich musste mich um Robert und die Kinder kümmern. Ohne mich hätten sie es nicht geschafft. Jeanie war jung und stark. Ich dachte, in ein paar Jahren würde sie wieder freikommen.»
    Vera schwieg. Ihr kam das Gefängnis oben auf dem Kliff in den Sinn und Jeanie Long, die ihre Unschuld beteuerte, die vor dem Bewährungsausschuss stand und sich weigerte, das Spiel mitzuspielen, das zu ihrer Entlassung geführt hätte.
    «Wenn Sie Kinder hätten», sagte Mary, «dann würden Sie das verstehen.»
    «Hat Christopher Sie an jenem Nachmittag draußen auf dem Feld gesehen?»
    «Nein. Niemand hat mich gesehen.»
    «Warum musste er dann sterben?»
    «Er musste nicht sterben. Wieso denn? Glauben Sie etwa, dass ich ihn umbringen wollte?»
    «Das verstehe ich nicht. Das müssen Sie mir erklären.»
    «In jenem Sommer war auch er ganz vernarrt in Abigail Mantel. Es war, als hätte sie die ganze Familie verhext, Emma und Robert und Christopher. Ich war die Einzige,die sie durchschaute. An dem Tag damals, als wir mit den Fahrrädern auf die Landspitze gefahren sind und Eis gegessen haben und sie mit ihrem Vater auftauchte, in dem schnellen Auto, da wusste ich schon, dass wir ihr ein Dorn im Auge waren. Wir besaßen eine Vertrautheit untereinander, die ihr fehlte. Ihr Vater ging mit vielen Frauen aus und wurde von seiner Arbeit vollkommen in
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