Ocean Rose. Verwandlung (German Edition)
entgehen. Da konnte Miss Mulligan so viele Reden über eine College-Karriere schwingen, wie sie wollte. Es spielte keine Rolle, ob ich die Aufnahme schaffte. Auch ein Elitediplom und die Chance auf eine Berufskarriere konnten nichts daran ändern, dass ich als Erwachsene nur eines sein würde.
Nämlich ein Monster.
Ein paar Minuten später griff ich nach meinem Rucksack, öffnete die Vordertasche, holte mein Handy heraus und schaltete es an. Mir liefen die Tränen über die Wangen, während ich die Nummer wählte, die ich zwar gewissenhaft aus meinem Adressbuch gelöscht hatte, aber immer noch auswendig kannte.
Beim zweiten Klingeln sprang Simons Mailbox an.
»Hallo.« Ich zuckte zusammen, als ich hörte, wie zitterig meine Stimme klang. »Ich weiß, dass du gerade Unterricht hast, aber … ich wollte einfach nur deine Stimme hören. Rufst du zurück? Bitte?«
K APITEL 5
I ch empfehle SMS oder Bienenwachs.«
Als ich von meinen Mathehausarbeiten hochschaute, sah ich Paige mit einem aufgeschlagenen Buch auf meinem Bett sitzen.
»Für Simon, meine ich.«
Mein Herz setzte einen Schlag aus. »Wovon redest du?«
»Tja, wenn man diesen beiden Bibliotheksbüchern glaubt, hat ein Mann nur zwei Möglichkeiten, um die Kontrolle zu behalten, wenn seine persönliche Sirene ihn umgarnt. Will er nicht alles verlieren – seinen Schlaf, seine Freunde, sein Leben –, muss er entweder per SMS mit ihr Schluss machen oder sich die Ohren mit Bienenwachs verstopfen.«
Ich starrte sie an. Zuerst grinste sie, aber als ich nicht reagierte, verlor sich ihr Lächeln.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Schlechter Scherz. Ich sollte dich nicht mit einer Sirene vergleichen. So bist du nicht und wirst es auch nie sein.«
»Schon okay. Mir tut es leid. Ich habe überreagiert, aber das liegt wohl daran, dass ich mich an dieses Wort noch immer nicht gewöhnt habe.«
»Geht mir ebenso. Genau deshalb will ich ja mehr herausfinden. Wenn ich verstehen könnte, wer sie sind, warum sie so sind … vielleicht würde mir dann alles weniger verrückt vorkommen.«
»Paige, wenn du wirklich darüber Bescheid wissen willst, warum fragst du nicht Betty?«
»Nachdem sie so hart darum gekämpft hat, die Wahrheit vor Raina und Zara zu verbergen? Und als die beiden es doch herausbekamen, haben sie Betty hintergangen und ihr neues Wissen gegen sie eingesetzt.« Sie schüttelte den Kopf und blätterte eine Seite um. »Ich will Betty nicht verletzen, indem ich ausgerechnet nach diesem Thema frage. Sie hat schon genug durchgemacht.«
»Stimmt, die Situation ist nicht einfach«, gab ich zu, »aber schließlich ist sie deine Großmutter. Betty würde alles für dich tun.«
Das wusste ich mit Sicherheit, immerhin hatte Betty erlaubt, dass Paige das Schuljahr bei mir verbrachte. Dadurch hatte Betty auch noch ihr letztes überlebendes Familienmitglied verloren und war nun ganz allein. Sie liebte Paige so sehr, dass sie ihr einen Neuanfang weit weg von Winter Harbor wünschte, wo nicht an jeder Ecke schmerzhafte Erinnerungen lauerten.
»Willst du was ganz Seltsames hören?«, fragte Paige einen Moment später. Sie hatte das Buch zugeklappt und schaute mich mit großen blauen Augen an, als könne sie selbst nicht glauben, was für ein Geheimnis sie mit sich herumtrug.
»Klar.« Ich musste an das letzte Geheimnis denken, dass sie mir mit schwangerem Bauch und glühenden Wangen anvertraut hatte. Damals hatte es sie fast umgebracht.
»Ich habe die beiden gesehen.«
Ein silbernes Aufblitzen ließ mich abwehrend blinzeln.
»Raina und Zara, draußen im Park. Unsere Literaturlehrerin ist mit uns auf die Wiese gegangen, um Shakespeares Wintermärchen zu lesen. Ich fand es so langweilig, dass mir kurz die Augen zugefallen sind. Als ich sie wieder aufschlug, habe ich die beiden gesehen. Sie saßen auf einer Bank und haben mich direkt angestarrt.«
Ich hörte Simons beruhigende Stimme in meinem Kopf.
Eine einzige Eisschicht … Was immer darin gelebt hat, ist nun tot.
»Ja, ich weiß«, sagte Paige, als ich schwieg. »Das klingt total durchgedreht.«
»Tut es nicht.«
»Doch, weil es nämlich unmöglich ist.« Sie sprang vom Bett und setzte sich zu mir auf den Teppichboden. »Weißt du noch, wie du Justines Stimme gehört hast? Nachdem sie längst fort war?«
Ich nickte.
»Könnte doch bei mir ähnlich sein. Vielleicht habe ich mir die beiden eingebildet? Nicht, weil ich sie vermisse, sondern weil ich von allem, was geschehen ist, irgendwie traumatisiert
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