Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nybbas Nächte

Nybbas Nächte

Titel: Nybbas Nächte
Autoren: Jennifer Benkau
Vom Netzwerk:
Engel sterben sehen“, erwiderte Nicholas und fuhr sich in einer abgehackten Geste durch die Haare. „Als er starb … da fühlte ich nichts an ihm. Nichts, rein gar nichts. Es war schwarz in ihm. AbsoluteFinsternis. Vielleicht ist es ja das, was uns erwartet, wenn wir sterben. Vielleicht …“
    „Nein.“ Joana schlang beide Arme um seine Taille und lehnte sich so weit von der Mauer, dass er sie festhalten musste. Was wiederum ihm Halt gab, das wusste sie. Sie steckte die Finger unter den Ärmel seiner Jacke und streichelte über seinen verbundenen Unterarm. „Da ist mehr. Ich glaube es. Ich glaube es so fest, dass es für uns beide reicht.“
    Er rieb sich über die Augen, bis seine Lider gerötet waren. „Es wäre einfacher, wenn du mir einreden würdest, er wäre fort. Ausradiert. Dann könnte ich einfach gehen. Ihn vergessen und mit ihm alles, was er von mir wollte. Aber wenn ein Teil von ihm noch existiert, geht das nicht. Dann bleiben noch Dinge, die ich klären muss.“
    Eine Ahnung sagte ihr, dass er nicht allein von Elias sprach. Konnte es sein, dass die Toten blieben, solange sie noch nicht zufrieden waren, mit dem, was sie erreicht hatten? Doch daran wollte sie zu diesem Zeitpunkt nicht denken. Der Gedanke war falsch und entweihte den Moment. Statt einer Antwort verflocht sie ihre Finger mit seinen.
    „Was denkst du, Jo. Ob wir in die USA fliegen und Annie suchen?“
    Er hatte ihr von dem Mädchen erzählt, das Elias retten wollte. „Mit nichts in der Hand als einer Stadt und einem Vornamen?“
    „Es könnten weniger Informationen sein. Dich fand ich ohne eine Stadt, ohne einen Namen und ohne zu wissen, dass ich dich suchte.“
    „Das geht nicht.“ Sie flüsterte nur und wandte den Blick mit einer stillen Entschuldigung von der Engelsstatue ab. „Wir können sie doch nicht einfach entführen und von ihrer Familie wegreißen. Auch nicht, um sie zu beschützen.“
    „Nicht einmal, wenn ich ihr ein Pony kaufe?“
    Nicholas erwartete keine Antwort außer einem Lächeln, aber Joana gelang nur eine Grimasse.
    Obwohl er nichts sagte, glaubte Joana fast zu hören, wie er Elias ein letztes Versprechen gab, signiert mit seinem eigenen Leben. Er würde dieses Mädchen für ihn befreien, koste es, was es wolle. Wenn sie nicht so müde gewesen wäre, hätte sie protestiert, doch in Wahrheit wusste sie, dass der Kampf gegen den Luzifer ohnehin nur eine Frage der Zeit war. Besser, Nicholas entschied den Zeitpunkt und trat ihm mit mehr Zielen als nur dem blanken Überleben entgegen.
    „Wollen wir gehen?“, fragte er, als die ersten winzigen Schneeflocken vom Himmel taumelten.
    Eine davon verfing sich in seinen Wimpern. Sie schmolz nicht.
    „Noch nicht.“
    Joana hatte nie verstanden, wo der Sinn darin lag, auf einem Begräbnis letzte Worte zu sagen. Sie hatte diese Sitte belächelt und gedacht, es würde ohnehin niemand richtig zuhören, waren doch alle zu beschäftigt mit weinen. Was niemandem mehr nützte. Doch nun, mit einem kurzen Blick in Nicholas’ kaltes Gesicht, begriff sie die Wichtigkeit von beidem.
    „Es ist nicht dunkel“, sagte sie und sprach die ersten Worte, die ihr in den Sinn kamen. Eine Indianerweisheit, die sie in einem Buch gefunden hatte.
    „Stehe nicht an meinem Grab und weine“, rezitierte sie frei aus der Erinnerung, bemühte sich um eine feste Stimme und scheiterte. Die ersten Tränen rannen, als hätten die Worte etwas in ihr geöffnet. Nicholas vergrub eine Hand in ihrem Haar, zog sie näher an sich und sie wusste, dass sie nicht nur für ihn glaubte, sondern auch für ihn weinte.
    „Ich bin nicht dort. Ich schlafe nicht. Ich bin die tausend Winde, die wehen. Bin das Glitzern der Sonne im Schnee. Ich bin das Sternenlicht der Nacht. Weine nicht an meinem Grab. Ich schlafe nicht. Bin nicht vergessen. Ich bin nicht tot.“

27
    I
n London war es nachts gut zehn Grad wärmer als in Island bei Tag und doch fror Joana entsetzlich auf der Rückbank des gestohlenen BMWs. Sie hatte eines der getönten Fenster zur Hälfte heruntergelassen und die Armbrustspitze auf der Scheibe aufgelegt. Durch das Zielfernrohr beobachtete sie den von Graffiti übersäten Backsteinbau, der abseits der Stadt einsam in einer Talsenke lag. Viel konnte sie im Mondlicht nicht erkennen, doch Bewegungen fielen ihr ins Auge. Immer wieder huschte ihr Blick zurück zu der Lücke, die Nicholas in den Z-Draht geschnitten hatte, ehe er hindurchgekrochen und in das Gebäude eingedrungen war. Er vertraute darauf,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher