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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
Autoren: Stefanie Zweig
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den Tag, da er mit Victoria die Reise nach München beschlossen hatte, wo das Bild hing, riefen die Nazis zum Boykott jüdischer Geschäfte auf. Danach reisten Deutschlands Juden nicht mehr zu Deutschlands Museen.
    Trotz des ungewöhnlich kühlen Wetters an diesem letzten Septembersonntag hatte die Kleine nackte Arme, ihre Füße steckten in kurzen Socken und leichten Stoffsandalen. Schon aus der Entfernung fiel Fritz auf, dass das Kind einen auffallend dunklen Teint hatte. Er begriff, weshalb ihm Murillos Traubenknaben erschienen waren.
    Die Kinderschönheit erwiderte sein Lächeln. Sie gurgelte Frohsinn und sagte ein Wort, das für Fritz nur aus Vokalen zu bestehen schien. Weil er sich noch mit Kinderfreuden und der frühen Lust am Wort auskannte, versuchte er das Wort nachzusprechen. Die Kokette entwand sich den Armen, die sie hielten. Sie schwenkte einen langen, hellen Stock, an dem ein Papierfähnchen hing, und rief noch lauter als zuvor: »Ima.«
    Es war die Fahne – weiß mit breiten blauen Streifen oben und unten und mit einem sechszackigen blauen Stern in der Mitte –, die Fritz Gewissheit gab. Noch musste er sich zwingen zu glauben, was er sah, zu präzise Erinnerungen an die zerronnenen Hoffnungen seines Lebens drängten sich ihm auf, die vielen Enttäuschungen der Vergangenheit mahnten zur Vorsicht. Immer war er ein Skeptiker gewesen und hatte sich nicht von Wünschen und Träumen zu voreiligen Schlüssen verführen lassen. Er hielt es immer mit dem Argwohn seines Berufs. »Misstrauen«, pflegte er zu sagen, »schützt vor Illusionen.« Nun war er nicht misstrauisch, nicht argwöhnisch und auch nicht mehr vorsichtig. Sein Herz schlug Alarm, und seine Hände bebten, denn ein kleines Mädchen schwenkte ein Papierfähnchen mit einem sechszackigen Stern. Er begriff, was das bedeutete. Ihm kam noch nicht einmal die Idee, er könnte sich irren. In diesem Moment des Jubels schwor der Skeptiker Friedrich Feuereisen, nie mehr an Gottes Güte und Weisheit zu zweifeln. Der Mann des Misstrauens wusste nichts mehr von Zeit und Ort und Raum. Er war betäubt vom Glück.
    Noch war der Weg weit. Fritz starrte auf den Mann im Regenmantel. Er konnte lediglich seinen Rücken sehen, stellte fest, dass sein Mantel schäbig und ausgebleicht war. Der Saum und eine Gürtelschlaufe waren ausgerissen. Die Frau, die neben dem Mann stand, schaute ebenfalls in den Hof hinaus und nicht ins Haus. Auch ihr Mantel war abgetragen, die Schuhe für den Herbst zu sommerlich. In ihrer Unbeweglichkeit wirkten Mann und Frau wie Statuen, beide waren sie groß und schlank, beider Haar üppig und weiß.
    Dass sie sich an den Händen hielten wie verirrte Kinder, die die Hoffnung aufgegeben haben, je wieder den Weg nach Hause zu finden, rührte Fritz. Er spürte, dass es an der Zeit war, die schweigsamen Eindringlinge anzusprechen. Seinem Gefühl für Takt und Würde widersprach es, Gaffer aus dem Hinterhalt zu sein. Er empfand es als Kränkung, Menschen zu beobachten, die ihn nicht wahrgenommen hatten. Oder wollten sie ihn nicht wahrnehmen? War alles nur ein abgemachtes Spiel mit Regeln, die er nicht durchschaute? Ein Teufelsspuk wie damals.
    Er merkte, dass ihn die junge Frau mit dem Kind unverwandt ansah, er wurde aufs Neue unsicher, zermarterte seinen Kopf, ob er sie nicht doch schon mal gesehen hätte und wann, er wollte ihr seinen Namen sagen, sie fragen, wer sie war und ob sie Hilfe brauchte, aber sein Gesicht war immer noch erstarrt. Das Kind brabbelte vergnügt vor sich hin, es machte kreisende Bewegungen mit seiner Fahne. Der Stern wurde immer größer, das Blau immer intensiver, so blau wie das Meer, ein blaues Wunder.
    Fritz wurde bewusst, dass er ausgerechnet in dem Haus, aus dem die Nazis die Familie Sternberg verjagt hatten und das er für Betsy zurückerkämpft hatte, zum ersten Mal in seinem Leben die Nationalflagge Israels sah. Er flüsterte das Wort, zählte die Buchstaben und empfand es als eine Himmelsbotschaft, dass es sechs waren. Sechs Buchstaben und ein Stern mit sechs Zacken. Der jüdische Staat war erst am 14. Mai 1948 gegründet worden. Dass ein Kind nun die Fahne hielt, die ihn sehend gemacht hatte, war für Fritz ein Symbol der Hoffnung. Als er Gott dankte, merkte er nicht, dass er laut sprach.
    »Gott«, plapperte das Kind nach.
    »Ima«, probierte es Fritz.
    Der Mann an der Haustür drehte sich um. Sein Gesicht war kalkweiß, der Mund stand offen. Wie zuvor Fritz, begriff er im ersten Moment nicht, was geschehen war.
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