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Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar

Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar

Titel: Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
Autoren: Else Ury
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Das Mittagsmahl ist augenblicklich wichtiger.« Und nachdem die junge Dame sich für Risotto entschlossen hatte, fuhr er fort: »Das Cenacolo - das heilige Abendmahl Leonardos - ist überhaupt nur eine Modetorheit der Fremden. Das Bild ist arg von der Zeit mitgenommen. In einer Kopie kannst du das viel besser sehen. Und in Genua sollst du in den alten Palazzi genug Bilder bewundern.« Damit machte sich der alte Herr an seine Spaghetti.
    »Interessierst du dich nicht für Malerei, Onkel?« fragte Marietta sehr verblüfft. Wie hatten die Großmama und auch der Großpapa schon vorher mit ihr in dem Meisterbild Leonardos geschwelgt, sie auf alle Schönheiten, auf die sie achten mußte, aufmerksam gemacht. Marietta hatte angenommen, alle Italiener seien kunstfreudig, in dem Lande der Kunst mache keiner eine Ausnahme.
    »Musik ist mir lieber«, meinte der Onkel gemütlich und ließ es sich schmecken. »Schade, daß die Scala, die große Mailänder Oper, noch nicht wieder eröffnet ist. Da hättest du heute abend einen Genuß gehabt - superbo!«
    »Nun, mir wird Leonardo da Vinci morgen einen nicht geringeren Genuß bereiten«, lächelte seine junge Begleiterin.
    »Domani - morgen, was denkst du, Marietta! Um diese Zeit sind wir morgen bereits in Genua.«
    »Ich nicht, Onkel Enrico.« Marietta lachte schelmisch. »Ich fahre nicht aus Mailand fort, ohne das Abendmahl und die Gemäldegalerie gesehen zu haben.« Das klang bei aller Bescheidenheit fest und energisch.
    »Non c'e possible, Marietta. Es ist wirklich unmöglich. Ich muß den Morgenzug nehmen, da ich am Nachmittag eine geschäftliche Unterredung habe. So gern ich einer so schönen Signorina den Gefallen ...«
    »Aber Onkel, ich brauche doch noch nicht morgen mittag in Genua zu sein«, unterbrach ihn Marietta. »Ich komme dir nach ...«
    Der Onkel blätterte im Kursbuch. »Du könntest den Mittagszug nach Genua benutzen. Dann hast du den Vormittag noch für deine Kunst«, räumte er nachgiebig ein. »Ce bene?« »Bene - benissimo!« Marietta war einverstanden.
    Als der Onkel am andern Morgen davongedampft war, durchflutete Marietta endlich ein Gefühl der Selbständigkeit. Allein in einer fremden Stadt - ihre sonstige Scheu und Schüchternheit war fröhlichem Unternehmungsgeist gewichen. Also zuerst zur Kirche Maria delle Grazie, einem frühromanischen Bau mit schönem Klosterhof, die das Wandgemälde des großen Meisters Leonardo barg. Wie lange Marietta vor dem Bild, das stark gelitten hatte, teilweise durch die Jahrhunderte gestanden hatte, wußte sie nicht. Das, was man sah, war von so überwältigender, erhabener Schönheit, in Gestaltung, Ausdruck und Farben, daß sie ganz hineintauchte, sich vollständig versenkte in das wunderbare Werk. Losgelöst war sie von Zeit und Umgebung.
    »Beg your pardon.« Englische Laute rissen sie aus ihrer Versunkenheit. »Ist dies das berühmte Bild von Mister Leonardo da Vinci?« Ein großer blonder Engländer konnte sich nicht denken, daß man um dieses verblichene, teilweise schon schadhafte Gemälde solch ein Aufhebens machte.
    Marietta bejahte kurz und wandte sich zum Gehen. Da durchzuckte es sie - dieser blonde Hüne erinnerte an Horst Braun. Eine plötzliche Unruhe ergriff sie. Ob Horst bereits in Genua war? Der Onkel wußte nur, daß die Patria, das Schiff, das er benutzte, in den nächsten Tagen erwartet wurde. Marietta sah seiner Ankunft mit gemischten Gefühlen entgegen. Beklemmung und Freude hielten sich die Waagschale. Ob er noch immer unter Anitas Handlungsweise litt? Würde er sie wieder gleichgültig übersehen wie vor Jahren? Und doch, sie wollte die erste sein, die ihn auf europäischem Boden begrüßte, die ihm die Heimatgrüße von der Waterkant brachte.
    Die Gemäldegalerie mit ihren Kunstschätzen, den Bildern von Luini, dem herrlichen Raffaelschen Gemälde »Die Vermählung der Maria« und vor allem einer Pietä von Bellini, eine Beweinung Christi, gaben ihr Ruhe und Andacht zurück. Noch einmal in den Dom hinein, hinauf durch das Spitzengewirr bis zur höchsten Turmgalerie, ein Blick nordwärts, wo die Schneehäupter der Alpen grüßten, dann flogen Auge und Sinn gen Süden. Eine Stunde später saß Marietta im Zug nach Genua.

Unter Palmen
     
    »Welchen Palazzo gedenkt Signorina Marietta heute zu besichtigen?« neckte der Onkel, als man bei der colazione, dem ersten Frühstück, auf der Gartenterrasse am Ligunschen Meer saß.
    »Heute wollte ich mit Marietta nach Portofino Culm hinauf«, nahm die Tante
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