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Nesthäkchen 09 - Nesthäkchens und ihre Enkel

Nesthäkchen 09 - Nesthäkchens und ihre Enkel

Titel: Nesthäkchen 09 - Nesthäkchens und ihre Enkel
Autoren: Else Ury
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zurück.
    Sicher war sie länger als auf dem Hinweg gewandert. Es wurde ihr plötzlich zur furchtbaren Gewißheit, daß sie in entgegengesetzter Richtung ging. Aber auch dort mußte sie doch schließlich in bewohnte Gegenden kommen. Die Orlandos hatten, wie alle Plantagenbesitzer, ihr Sommerhaus auf ihrer Fazenda. Wenn sie wenigstens dorthin gelangte.
    Lottchen war vor Hunger, Müdigkeit und Hitze zu keiner Auskunft mehr imstande. Schwer ließ sie sich von Marietta weiterziehen. Aber auch diese verließen die Kräfte. Unter einem breitzweigigen Kaffeestrauch, der einigermaßen Schatten bot, ließ sie sich, unfähig zum Weitergehen, nieder. Wie lange sie so gesessen hatte, wußte sie nicht. Das Kind hatte das Köpfchen an ihre Schulter gelegt und war vor Erschöpfung eingeschlafen. Alles still. Nur der heiße Tropenwind flüsterte mit den Blättern.
    Da ein Laut, ein heller, schreiartiger. Er schreckte Marietta aus ihrem Dämmerzustand auf. War es ein Vogel, der Jukano? Noch einmal - deutlicher - ein helles Gewieher war es - Pferde mußten in der Nähe sein. Marietta riß das schlummernde Kind empor. Sie ging dem Tone nach. Stimmen wurden laut - Rufe - deutlich, immer deutlicher zu unterscheiden - »Marietta - Marietta!« Wie mit Engelszungen klang es an das Ohr des verirrten Mädchens. »Hier - hier.« Sie hatte nicht mehr die Kraft zum lauten Gegenruf. Aber der war auch nicht mehr nötig. Diego, der alte, treue Neger, stand plötzlich vor ihr. Weinend sank ihm das erschöpfte Mädchen in die Arme.
    Diegos Freudenruf brachte alsbald die anderen zur Stelle. Vater und Mutter in größter Sorge und Aufregung. Anita fiel der Zwillingsschwester lachend und weinend um den Hals. Die Großmutter und Tante Margarida warteten im Auto auf der Landstraße, während die Dienerschaft die Plantagen rings in der Nähe des Gummibaumes, an dem Marietta das Pferd zurückgelassen hatte, absuchten. Ein ganzes Ende davon entfernt hatte Diego sie gefunden.
    Vorläufig konnte Marietta auf keine der Fragen, mit denen vor allem Anita sie bestürmte, Antwort geben. Der Mutter bleiches Antlitz gewahrend, hatte sie nur hervorgebracht: »Meine Mammi, solche Sorge habe ich euch gemacht!« Dann hatte sie völlig erschöpft die Augen geschlossen. Aber als man ihr in der kühlen Wohnung, zu der sie das Auto brachte, Eiskompressen auf die brennenden Schläfen legte und sie mit Früchten und Limonade erquicken wollte, stieß sie plötzlich das Gereichte erschreckt von sich. »Das Kind - es hungert!« war das erste, was sie wieder sprach.
    »Das Kind hat bereits eine Mahlzeit bekommen. Es ist wieder ganz vergnügt. Aber wie geht's dir, mein Liebling? Blaß siehst du aus.« Frau Ursel streichelte zärtlich die Wangen der Wiedergefundenen.
    »Ach, das ist ja Nebensache. Aber Mammi, man muß zu der Fazenda der Orlandos, wo die schrecklichen Lehmhütten für die Arbeiter sind, gutes Wasser, Lebensmittel und vor allem den Arzt senden. Die Mutter des kleinen Mädchens liegt allein im Sterben - sie leidet entsetzliche Qualen durch Durst. Das Wasser dort ist verseucht.« Ein Schauder überflog die junge Gestalt.
    Nicht umsonst nannten die Arbeiter der Tavaresschen Fazenda Donna Tavares ihre gute Fee. Umsichtig und tatkräftig veranlaßte sie sofort das Nötige, um der Schwerkranken Hilfe zuteil werden zu lassen. Der Arzt konnte aber nur noch den Tod der armen Frau feststellen.
    Marietta und Lottchen mußten von den übrigen Hausgenossen tagelang abgesperrt und unter ärztlicher Aufsicht bleiben. Denn die Befürchtung lag nahe, daß sie den bösen Krankheitskeim auch bereits in sich trügen. Das waren furchtbare Tage des Harrens, der Ungewißheit für Frau Ursel. Das Bitterste war für sie dabei, daß selbst sie nicht zu ihrem Kind durfte.
    Sogar das Weihnachtsfest mußten die beiden Mädchen getrennt von den übrigen verleben. Trotzdem wurde es für Marietta der schönste Weihnachtsabend, den sie bisher gefeiert hatte. Mit liebevollem Herzen war sie bemüht, der kleinen Waise die fehlende Mutter zu ersetzen, ihr Freude zu bereiten. Lottas Glück über all die schönen Gaben, die sie sich nach brasilianischer Sitte vom Baum pflücken mußte, war Mariettas reinste Weihnachtsfreude. Sie selbst hatte sich von den Eltern nur den Wunsch erbeten, daß Lotta im Hause bleiben dürfe und die Eltern für sie sorgen würden, bis die Verwandten in Deutschland ausfindig gemacht worden seien.

In Lichterfelde
     
    In lichten Flocken fiel der Schnee. Leise, leise glitt er
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