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Nesthäkchen 09 - Nesthäkchens und ihre Enkel

Nesthäkchen 09 - Nesthäkchens und ihre Enkel

Titel: Nesthäkchen 09 - Nesthäkchens und ihre Enkel
Autoren: Else Ury
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täglich auf die spiegelblanke Eisfläche der Tiergartenbahnen. Frau Ursels graziöse Erscheinung erregte dort noch heute Aufsehen. Sie hatte die Kunst des Eislaufens in den Tropen nicht verlernt. Ihre Mädel erlernten den ihnen fremden Sport in sehr kurzer Zeit. Milton zog es vor, mit seiner Schwiegermutter und dem Kleinen vom Ufer aus Frau und Tochter zu bewundern. Der Zeitanzeiger rückte unaufhaltsam weiter, so gern Frau Annemarie ihn auch angehalten hätte. Das Eis auf dem Neuen See bekam Risse. Frühlingssonne wagte sich schüchtern hervor. Jetzt begann das große Einkaufen. Es war ja alles so spottbillig in Europa, im Vergleich zu Brasilien.
    »Kind, Urselchen, du kaufst ja zum zweiten Mal eine ganze Aussteuer zusammen«, wunderte sich die Mutter. »Soll die schon für unsere Mädel sein?«
    »Nein, so eilig habe ich es damit nicht, Muzi. Aber drüben kennt man das Erhalten der Sachen nicht, wie bei uns die deutsche Hausfrau. Ist etwas schadhaft, wird es ersetzt.« »Das wäre nichts für mich«, meinte Frau Annemarie auf ihren traditionellen Ausbesserungskorb weisend. »Dann wundert es mich nicht, daß ich Anita nie dazu bekommen habe, eine Nähnadel in die Hand zu nehmen, um sich einen Knopf anzunähen oder einen Strumpf zu stopfen. Selbst unsere Jetta war schwer dazu zu haben, wenn sie ihre heimatlichen Gewohnheiten auch mir zuliebe überwand.«
    »Muzichen, hast du denn früher mit mir mehr Glück gehabt? Ich war doch stets ein arger Faulpelz und drückte mich schon damals nur zu gern vor Fingerhut und Nadel, ohne etwas von den tropischen Gepflogenheiten zu ahnen. Warum sollen es meine Töchter besser machen? Du wirst ganz froh sein, wenn du die faule Gesellschaft los bist.« Es klang scherzhaft, aber Ursel schaute doch ein wenig besorgt auf die Mutter.
    Die schwieg. Sie durfte ihrer Ursel den baldigen Abschied nicht erschweren.
    »Muzichen, Milton hat mir fest versprochen, daß wir von nun an alle zwei Jahre nach Europa herüberkommen. Kleine Kinder haben wir ja nicht mehr und ...«
    »Die Eltern haben auch nicht mehr Zeit, noch einmal sechzehn Jahre zu warten.«
    Wider ihren Willen war es Frau Annemarie entschlüpft.
    Ganz betreten schaute Ursel drein. Still streichelte sie der Mutter Hand. »Kind, wenn ich weiß, daß du gern wieder zurückgehst in das ferne Land, müssen alle anderen Gefühle schweigen.« Frau Annemarie gab sich einen Ruck. »Damals, als du als junges, unerfahrenes Ding deinem Mann übers Meer folgtest, wußtest du kaum, was du tatest. Heute kennst du die Verhältnisse drüben, heute hat sich der jugendliche Überschwang eurer Liebe in reife Zuneigung gewandelt. Urselchen, gehst du heute ebenso freudig wie damals aus deiner Heimat in die Fremde hinaus?« Die alten Augen suchten in denen der Tochter zu lesen.
    »Die Fremde ist mir zur Heimat geworden, Muzi. Damals hoffte ich das Glück dort zu finden. Heute weiß ich, daß ich es an der Seite meines Mannes gefunden habe.« »Dann darf ich nicht klagen. Nun will ich von unserem Beisammensein zehren und auf das nächste hoffen.« Frau Annemarie schlug wieder den ihr eigenen munteren Ton an. Und doch, was halfen all die festen Vorsätze. Je grüner die Fliederbüsche draußen im Garten wurden, je jubelnder die Vögel die Wiederkehr des Frühlings begrüßten, um so schwerer wurde es Frau Annemarie zumute. Nicht einmal vor siebzehn Jahren, als sie ihr junges Kind in die unbekannte Ferne hinausließ, hatte sie so gelitten. Ja, damals war sie selbst noch jung und hoffnungsfreudig gewesen. Jetzt war man alt und flügellahm, jetzt empfand man nur das Weh der Trennung. Selbst ihr Mann verstand sie nicht. Ihn hatte das Alter ruhiger, resignierter gemacht.
    »Das Ursele gehört nun mal in den brasilianischen Urwald - damit haben wir uns schon vor Jahren abfinden müssen.«
    Es war gut, daß Frau Ursel jetzt durch Abschiedsbesuche vielfach in Anspruch genommen war. War sie daheim, konnte die Mutter ihr stets ein frohes Gesicht zeigen. Eine aber gab es im Hause, die ließ sich von der scheinbaren Heiterkeit der Großmama nicht täuschen. Marietta litt mit ihr. Jede schmerzliche Regung fühlte sie ihr nach. Ach, ging es ihr selbst doch ganz ähnlich. Sie fürchtete sich vor dem ersten Mai, dem Abschiedstag. Anita lebte heute schon wieder mehr mit ihren Gedanken im Palmenland als in Europa. Marietta erschien ihr früheres Leben dort ganz unwirklich, wie ein Traum, aus dem sie erst in Deutschland erwacht war. Sie konnte es sich nicht vorstellen, daß
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