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Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest

Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest

Titel: Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
Autoren: Else Ury
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einschlug, machte sich die hereinbrechende Nacht doch schon stark bemerkbar. Wie unvorsichtig von ihr, so lange da draußen zu sitzen. Wenn sie sich nun in der fremden Stadt nicht zurechtfand, wenn sie im Dunkeln ihren Gasthof nicht wiedererkannte! Sollte sie zurückgehen und den fremden Herrn bitten, ihr den Weg zu weisen? Er hatte etwas Vertrauenerweckendes in seinen Augen und hatte doch selbst angeboten, ihr behilflich zu sein. Aber nein – nein – sie hatte sich doch zu abweisend ihm gegenüber benommen. Wie konnte sie sich jetzt mit einer Bitte an ihn wenden!
    Schritte hallten hinter ihr her. Das sonst so kecke Nesthäkchen ging schneller. Es war ihm recht unbehaglich in der fremden Stadt. Es lief in irgendeiner Richtung, ohne jede Überlegung. Ach, wäre es doch jetzt in Stuttgart bei Marlene und Ilse.
    In dieser Gegend gab es keine Häuser. Überall nur Anlagen. Du mein Himmel, sie hatte sich ja gründlich verlaufen! Wie fand sie bloß in die Stadt zurück? Immer noch klangen die Schritte hinter ihr und jagten sie vorwärts. Und jetzt Gesang und Gelächter – es kam ihr entgegen; junge, vergnügte Burschen zogen durch die Frühlingsnacht.
    Das Lachen und Singen näherte sich. Herzklopfend blieb Annemarie stehen. Sie war doch sonst nie bange, wo war nur Nesthäkchens Mut hin? Hatten Großmama und Tante Albertinchen nicht recht, daß ein junges Mädchen daheim ins Elternhaus gehörte? Sie hatte diese Ansichten heimlich als altmodisch verspottet.
    Wohin sollte sie? Vorwärts oder zurück? Während Annemarie noch überlegte, hatten die Schritte, die den ganzen Weg über hinter ihr gedröhnt hatten, sie eingeholt. Es war bereits zu dunkel, um den Herankommenden zu erkennen. Aber als er zu sprechen begann, wußte Annemarie, daß es der Herr vom Bahnhof und aus dem »Weißen Lamm« war.
    »Ich bitte um Entschuldigung, gnädiges Fräulein, wenn ich trotz der deutlichen Abweisung es wage, Ihnen meine Gesellschaft aufzudrängen. Sie sind fremd hier, ohne Schutz – ich habe halt selbst eine junge Schwester und möcht’ sie nit in ähnlicher Lage wissen.« Das klang so echt und menschenfreundlich, daß auch die letzte Scheu und Beklommenheit bei Annemarie schwand. Ein Gefühl des Geborgenseins kam ihr, während die singenden Burschen an ihnen vorbeizogen.
    Sie reichte ihm dankbar die Hand. »Ich danke Ihnen für Ihre große Freundlichkeit – die ich eigentlich gar nicht verdient habe«, setzte sie ehrlich hinzu.
    »Gestatten Sie, daß ich mich Ihnen vorstell’«, sagte der Fremde, »mein Name ist Hartenstein – Rudolf Hartenstein.«
    Mußte sie jetzt auch ihren Namen nennen? Wie meistens handelte Nesthäkchen aus ihrem Gefühl heraus, und das sagte ihr, daß sie diesem ungezwungenen Entgegenkommen des Fremden in gleicher Weise begegnen müsse. So nannte auch sie ihren Namen und erzählte, daß sie auf dem Wege nach Tübingen sei, um dort Medizin zu studieren.
    »Ach, nach Tübingen! Dort studiert meine Schwester ebenfalls.«
    »Auch Medizin?« Annemarie rief es in lebhafter Freude. Wie schön, wenn sie dort gleich Anschluß fand an jemand, der bereits eingebürgert war.
    »Nein, meine Schwester studiert Chemie und Physik. Ein Mediziner in der Familie ist ausreichend. Ich bin hier in Würzburg, um meinen Doktor zu machen und freu’ mich, eine junge Kollegin in spe kennenzulernen.« Er bot ihr seinen Arm.
    »Nee – unterfassen möchte ich nicht!« Um ein Haar hätte Nesthäkchen »unterklauen« gesagt, wie sie sich den Freundinnen gegenüber auszudrücken pflegte.
    Bestürzt trat der junge Mediziner zur Seite. Hatte er wieder irgend etwas falsch gemacht? Er pflegte den Freundinnen seiner Schwester, wenn er sie abends nach Haus geleitete, stets den Arm zu bieten. Vielleicht war das in Norddeutschland nicht Sitte.
    Annemarie biß sich auf die Lippen. Da war sie doch sicher mal wieder zu schnell gewesen. Es tat ihr leid, daß Herr Hartenstein jetzt stumm neben ihr in drei Schritt Entfernung hermarschierte. Sie fand seine süddeutsche Sprechweise so nett und hätte ihn gern noch plaudern gehört.
    »Das soll keine Kränkung für Sie sein – nicht mal in der Tanzstunde habe ich mich von den Junglingen unterärmeln lassen – ich kann das nun mal nicht leiden«, lenkte Nesthäkchen wieder ein.
    Da lachte Rudolf Hartenstein herzlich, und das Eis war gebrochen. Wie alte, gute Bekannte plaudernd, kamen sie endlich in die Stadt. Denn Annemarie hatte vorher gerade den entgegengesetzten Weg eingeschlagen.
    »Zu welchem Hotel
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