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Nebel über dem Fluss

Nebel über dem Fluss

Titel: Nebel über dem Fluss
Autoren: dtv
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balancierend. »Wenn man die Jahreszeit bedenkt, ist es ein wunderschöner Tag.«
    Hinter seinem Arm konnte Lynn ein Stück blassblauen Himmels erkennen, einen Schimmer dunklen Grüns. Michael griff hinter sich und zog die Tür zu.
    Das Innere des Wohnwagens war nicht bemerkenswert: ein kleiner Resopaltisch und ein paar billige Stühle, ein schmales Bett an einer Wand, ein Gaskocher, einige Schränke, ein Spülbecken. Etwa in der Mitte brannte ein Gasheizgerät auf kleiner Flamme. Ihr gegenüber hing ein mit Fliegendreck gesprenkelter Kalender, der unter dem farbigen Bild eines Tulpenfelds den Monat Januar anzeigte, zwei Jahre alt.
    »Hier, das kannst du jetzt sicher gebrauchen.« Auf dem Tablett, das er neben ihr auf dem Fußboden absetzte, warteten ein Becher mit einer noch dampfenden Flüssigkeit, Tee wahrscheinlich, eine Scheibe Brot mit ein paar Klecksen Butter, eine Schale in Milch aufgeweichtes Müsli. »Du bist bestimmt hungrig. Du hast lange geschlafen.«
    Seine Augen waren ruhelos. Lynn horchte auf Verkehrslärm, menschliche Geräusche, aber sie hörte nur das Brummen eines Motors – und ihre Atemzüge, seine und ihre.
    »Willst du nicht essen?«
    Sie antwortete nicht, sah ihn nur an. Sie wollte seine Aufmerksamkeit. Brauchte sie.
    »Wär’s nicht furchtbar, sie fänden dich, nachdem du gerade Hungers gestorben bist?« Er zog die Unterseite des Löffels über den Rand der Müslischale, ehe er ihn zu ihrem Mund führte. »Keinesfalls möchte ich, dass sie nachher behaupten, du wärst vernachlässigt worden. Keiner hätte sich um dich gekümmert. Ich will nicht, dass sie das denken.«
    Die Löffelspitze stieß zwischen ihren Lippen hindurch an ihre Zähne, und Lynn musste an seinen Kuss denken. Sie öffnete den Mund weit genug, um den Löffel einzulassen. Das Müsli war lauwarm und schmeckte nach Zucker und Haferflocken.
    »Gut?«, erkundigte sich Michael freundlich. »Schmeckt es? Möchtest du noch etwas oder willst du vielleicht einen Schluck Tee?«
    Den Tee zu trinken, war schwieriger, sie musste den Kopf nach rückwärts neigen, und trotzdem floss etwas über und rann ihren Hals hinunter.
    »Warte.« Er nahm ein Papiertuch aus der Hosentasche und legte es zu einer Kompresse zusammen. »Das werden wir gleich haben.«
    Lynn schreckte vor seiner Hand zurück.
    Michael lächelte nur und unternahm einen zweiten Versuch. Dabei bemerkte er den klebrigen Rückstand auf ihrem Oberschenkel. »Da ist wohl ein kleiner Unfall passiert?« Er faltete das Papiertuch neu, bevor er etwas Spucke darauf gab, genau wie ihre Mutter es immer gemacht hatte, als sie noch klein gewesen war. »So«, sagte er, während er ihr Bein abtupfte. »Das ist doch gleich viel besser.«
    Mistkerl, dachte Lynn, du bringst mich nicht mehr zum Heulen.
    Lächelnd führte Michael den nächsten Löffel Müsli zu ihrem Mund, und sie schluckte das Zeug dankbar hinunter.
     
    Robin und Mark waren früh aufgebrochen; über den Tälern hing noch der Nebel und als er sich endlich lichtete, sahen sie, dass auf den Gipfeln Schnee lag. Aber für diesen Teil Englands war gutes Wetter angesagt, außerdem waren sie ordentlich ausgestattet mit Kompassen, Kleidern zum Wechseln, Proviant und Notausrüstung. Robin hatte seit seiner Ankunft kaum über Nancy gesprochen, und Mark fand es am besten, es dabei zu belassen. Am dringendsten, meinte er, brauchte Robin jetzt Ablenkung, nicht endlose Zwiegespräche, die sich um wehmütige Erinnerungen und Reue drehten. Wobei er, wenn es doch dazu kommen sollte, selbstverständlich mitfühlende Anteilnahme zeigen würde.
    Sie waren jetzt, ständig steigend, etwas mehr als eine Stunde unterwegs. Robin hatte Mark, der zunächst vorn gegangen war, in der Führung abgelöst und ein flotteres Tempo angeschlagen. Obwohl sie sich noch an den unteren Hängen befanden, kostete der Anstieg Kraft und Atem, gesprochen wurde nur das Nötigste.
    »Schau! Da!«
    Mark blieb stehen und blickte in die Richtung, in die Robins Arm zeigte, nach Osten, wo über den Berggipfeln die Sonne endlich ganz aufgegangen war.
    »Hab ich’s dir nicht gesagt?«, fragte Mark. »Es wird ein herrlicher Tag.«
    Robin lächelte, bevor er sich umdrehte und weiterging.
     
    Lynn hatte über die Kälte geklagt und ihre Kleider zurückgefordert. Zur Antwort hatte er das Heizgerät einen Tick höher gestellt und gelacht. So heiter, dass es ihr kalt denRücken hinunterlief. Sie glaubte jetzt, ihn vorher draußen singen gehört zu haben, konnte aber nicht sagen, ob
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