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Naerrisches Prag

Naerrisches Prag

Titel: Naerrisches Prag
Autoren: Lenka Reinerová
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bildete ich mir das bloß ein, und das Mädchen war einfach vernünftig.
    Wo steckte in solcher Stunde das Wesen, das gleichzeitig an drei Tischen zu sitzen versteht? Wo blieb der magische Geist, von dem es heißt, daß er Prag seinen rätselhaften Zauber verleiht? Diesen Zuwanderern aus einem ungebundenen, ganz anders gearteten Dasein hätte der Namenlose beistehen, hätte sie beruhigen müssen. In unserer Stadt wurden – wie an so vielen anderen Orten – im Laufe der Jahre wiederholt Menschen, oft ganze Gruppen, angefeindet und mißverstanden. Und haben hier dennoch Fuß gefaßt und die Moldaumetropole gerade mit ihrer Unterschiedlichkeit bereichert und mitgestaltet. Neuartig, temperamentvoll, manchmal ein bißchen närrisch. Aber auch das gehört glücklicherweise zu Prag.
    Wir brauchten gleichfalls eine gewisse Zeit, um uns in Košíře einzugewöhnen, in dieser für uns neuen und bislang fremden Umgebung. Da klingelte eines Tages jemand an unserer Tür. Ich öffnete, auf der Schwelle stand eine Frau in Mantel und Kopftuch, wie mir schien, ein wenig verlegen.
    »Sie wünschen?« fragte ich die Fremde.
    »Ich bin die Božena«, lautete die gemurmelte, überraschende Antwort.
    »Na so was! Kommen Sie doch weiter!«
    »Nein, nein«, sie schüttelte den Kopf, »verzeihen Sie, ich will nicht stören, möchte Sie nur um etwas ersuchen.«
    »Frau Boženka«, rief in diesem Augenblick mein Mann, der nachschauen kam, was sich an der Wohnungstür abspielte. »Treten Sie doch näher.«
    Wir mußten sie noch ein wenig überreden, schließlich ließ sie sich in Mantel und Kopftuch im Wohnzimmer nieder, blickte sich um und sagte: »Noch mehr Bücher.«
    Dann rückte sie mit ihrer Bitte heraus. Sie benötigte für ihren Rentenanspruch eine Bestätigung für die Zeit, während der sie bei uns im Haushalt half. Dabei bemerkte sie leise und nur so nebenbei, jetzt in einem städtischen Frauenheim in unserer Nähe zu wohnen und sehr viel Zeit zu haben. Ich schaute zu meinem Mann hinüber, der nickte.
    »Boženka«, sagte ich, »ich arbeite jetzt in einer Redaktion, komme unregelmäßig nach Hause. Mein Mann soll aber regelmäßig essen, er ist, wie Sie ja wissen, nicht ganz gesund. Möchten Sie nicht ein paarmal in der Woche ...«
    Und so trat Frau Boženka diesmal eigentlich nicht so sehr in unseren Haushalt als vielmehr in unsere Familie ein. Denn mit ihr hatte sich in den vergangenen Jahren eine sehr wesentliche Änderung vollzogen.
    Es ist wohl kaum ein Zufall, daß ein Dichter in Prag, vielleicht sozusagen DER Dichter von Prag, in einer seiner berühmtesten Erzählungen einen Menschen sich in einen Käfer verwandeln ließ. Könnte ein solcher Prozeß auch umgekehrt stattfinden? Kann sich ein kleiner Menschenkäferin ein aufrechtes Wesen, in ein schlichtes und vollwürdiges Menschenexemplar umwandeln? Was meint hierzu mein Schattenwesen, das gleichzeitig an drei Tischen zu sitzen vermag? Kann einem eine solche verwandelte Gestalt den Weg kreuzen? Sind wir imstande, sie zu erkennen und richtig zu deuten?
    Ihre Erfahrungen in der Welt der Industrie hat Boženka in einer Kosmetikfabrik gesammelt, an einem mit vielen Frauen besetzten Fließband. Zuerst, so erzählte sie uns jetzt ganz offen und sogar sichtlich gern, zuerst war das gar nicht einfach, hatte sie doch bislang immer nur allein in einem fremden Haushalt gearbeitet. Bis zur Besetzung der Tschechoslowakei durch Nazideutschland bei einer jüdischen Familie, wovon sie uns gegenüber früher nie gesprochen hatte.
    »Die waren gut zu mir«, sagte sie nun, und Tränen schossen in ihre Augen, »und wurden alle umgebracht. Selbst der kleine Willi, so ein liebes Kerlchen.«
    Unmittelbar nach Kriegsende, erzählte sie ein andermal, kam sie im Haushalt eines kinderlosen Ehepaares unter. Der Mann war Minister, »aber sehr freundlich«, wie sie betonte. Mit der gnädigen Frau konnte sie jedoch nicht zurechtkommen. Die fuhr mit den Fingern ständig an den Möbeln herum, um festzustellen, ob Boženka überall ordentlich Staub gewischt hat. Wenn Gäste ins Haus kamen, verlangte Madame, daß sie in einem schwarzen Kleid mit weißer Schürze und weißem Häubchen bei Tisch servierte. Eines Tages herrschte sie sie im Laufe eines solchen Essens vor den Gästen grob an. Da verzog sich Boženka in die Küche, holte ihr Köfferchen hervor, legte Schürze und Häubchen auf den Tisch und verließ das Haus.
    »Zwischen Vorspeise und Suppe«, berichtete sie uns, »das war gewiß nicht in Ordnung,
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