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Nachtzug

Titel: Nachtzug
Autoren: Barbara Wood , Gareth Wootton
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Frisur gekämmtes Haar und kornblumenblaue Augen, doch die Unruhe seines Blicks, das Ausdruckslose darin, vermittelten ihr auch hier einen zwiespältigen Eindruck von ihm.
    Der Zug nach Lublin schaukelte und wackelte, während er durch das schneebedeckte Weichseltal stampfte. Erneut mußte er auf ein Nebengleis ausweichen, um einem aus Norden kommenden Zug Platz zu machen, dessen versiegelte geheimnisvolle Güterwaggons an ihnen vorbeirumpelten. Es galt, unbedingt die unheilvollen Termine einzuhalten.
    Hans Keppler schloß die Augen, um sich den Anblick zu ersparen. Warum konnte der Zug nicht schneller fahren? Bis nach Sofia würde es noch eine Ewigkeit dauern. Eine Ewigkeit …
     
    {30} Der große Arzt stand auf der anderen Seite der Glasscheibe, die den Operationssaal vom Waschraum abtrennte. Er hatte sich einen weißen Kittel übergezogen und eine Maske angelegt, aber er gehörte nicht zum Operationsteam. Vielmehr war er ein Zuschauer, der abseits stand und die Vorbereitungen beobachtete.
    Der Patient auf dem Tisch, der von Milewski schwerverwundet ins Krankenhaus gebracht worden war, hatte seit seiner Aufnahme das Bewußtsein nicht mehr wiedererlangt. Wie eine Leiche lag er unter den weißen, sterilen Abdecktüchern. Alles Leben schien aus ihm gewichen zu sein.
    Heilige Jungfrau Maria, dachte der Doktor hinter der Scheibe, während er die präzisen Handgriffe des Chirurgen verfolgte. Bitte laß ihn leben, wenigstens so lange, bis er mir erzählt hat, was passiert ist.
    Er kämpfte gegen das unerträgliche Verlangen nach einer Zigarette an und biß sich krampfhaft auf die Unterlippe. Was der Bauer ihm erzählt hatte, diese unglaubliche Geschichte, die der verblutende Mann noch hatte stammeln können, bevor er ohnmächtig geworden war, war das Schrecklichste, was er je gehört hatte.
    Ohne auch nur einmal zu blinzeln, blickte er auf das Skalpell, das im Lichte der OP -Scheinwerfer aufblitzte. Und immer wieder durchfuhr es ihn: »Heilige Jungfrau Maria, laß ihn leben. Die Geschichte kann nicht wahr sein. Sie kann einfach nicht stimmen.«
     
    »Darf ich Ihnen etwas zu essen anbieten?«
    Keppler blickte ruckartig auf. Er musterte die alte Polin, die auf ihrem breiten Schoß ein paar Essenssachen vor ihm ausbreitete. Sie bot ihm ein Stück Hartkäse an.
    »Danke, nein.«
    Keppler blickte wieder aus dem Fenster. Draußen war es inzwischen heller. Der Tag brach an. Wie spät war es wohl? Hatte er geschlafen?
    Plötzlich wurde er unruhig und schaute auf die junge Frau ihm gegenüber. Ihr Gesicht war ausdruckslos, und ihr Blick versicherte ihm, daß kein Anlaß zur Sorge bestand. Wenn er aufgeschrien hätte, wenn ihm im Schlaf nur ein Wort über die furchtbare Last, die er in sich trug, über die Lippen gekommen wäre, dann hätte er ihr den Schrecken unweigerlich ansehen müssen.
    {31} »Ich habe selber …«, erklärte er und bückte sich nach dem Koffer, der neben seinen Füßen auf dem Boden lag. Nachdem er kurz am Verschluß herumgenestelt hatte, holte er eine lange Wurst und ein Stück Schokolade hervor. Sofort sah er sich drei weit aufgerissenen Augenpaaren gegenüber.
    Keppler nahm nun ebenfalls ein Messer aus der Tasche und schnitt mehrere Scheiben von der Wurst ab, die er dem staunenden alten Pärchen anbot. Der Mann, schüchtern und begierig zugleich, nahm die Scheiben mit einem gemurmelten
»Dziekuje«
entgegen, um dann verlegen lächelnd die Scheiben noch dünner zu schneiden.
    Als er Anna ein Stück anbot, willigte sie wortlos, aber mit einem Lächeln ein und begann sofort, daran zu knabbern.
    Nun wurde die Schokolade in Portionen geschnitten, und als er dem Pärchen einige Stücke reichte, reagierte es mit echter Begeisterung. »Lange schon haben wir keine Schokolade mehr gesehen, mein Herr. Wir werden sie für die Bescherung unserer Enkelkinder aufbewahren.«
    Anna Krasinska, die ihr eigenes Stück Schokolade in ein Taschentuch einwickelte und es in die Jackentasche steckte, freute sich: »Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich das letzte Mal Schokolade bekommen habe. So viel, wie sie kostet, kann man gar nicht arbeiten.«
    »Dann nehmen Sie das auch noch«, meinte Keppler und legte die übrige Schokolade, ein großes Stück, in ihren Schoß und machte sich daran, für sich selbst ein Stück Wurst abzuschneiden. Anna schaute ihn voller Verwunderung an. »Ich kann es nicht fassen! Warum geben Sie mir denn Ihre ganze Schokolade?«
    Keppler mied ihren Blick und ließ ein Stück von der krümeligen
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