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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Autoren: Pascal Mercier
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Kaffee. Schweigend sahen sie zu, wie die Sonne hinter einem feinen Wolkenschleier aufging. Es sei sonderbar, sagte die Frau plötzlich, daß glória für zwei so ganz unterschiedliche Dinge stehe: den äußeren, lärmigen Ruhm und die innere, stille Seligkeit. Und nach einer Pause: »Seligkeit – wovon reden wir eigentlich?«
    Gregorius trug ihr den schweren Koffer durch den Genfer Bahnhof. Die Leute im Großraumwagen der Schweizer Bahn redeten laut und lachten. Die Frau sah seinen Ärger, zeigte auf den Titel ihres Buches und lachte. Jetzt lachte auch er. Mitten in seinem Lachen kündigte die Lautsprecherstimme Lausanne an. Die Frau stand auf, er holte den Koffer herunter. Sie sah ihn an. »C’était bien, ça« , sagte sie. Dann stieg sie aus.
    Fribourg. Es würgte Gregorius. Er stieg auf die Burg und sah aufs nächtliche Lissabon hinunter. Er war auf der Fähre über den Tejo. Er saß bei Maria João in der Küche. Er ging durch die Klöster von Salamanca und setzte sich in die Vorlesung von Estefânia Espinhosa.
    Bern. Gregorius stieg aus. Er setzte den Koffer ab und wartete. Als er ihn nahm und weiterging, war ihm, als wate er durch Blei.

52
     
    In der kalten Wohnung hatte er den Koffer abgesetzt und war dann zum Fotogeschäft gegangen. Jetzt saß er im Wohnzimmer. In zwei Stunden konnte er die entwickelten Bilder abholen. Was sollte er bis dahin machen?
    Der Telefonhörer lag immer noch verkehrt herum auf der Gabel und erinnerte ihn an das nächtliche Gespräch mit Doxiades. Fünf Wochen war das her. Damals hatte es geschneit, jetzt gingen die Leute ohne Mantel. Doch das Licht war noch bleich, kein Vergleich mit dem Licht auf dem Tejo.
    Die Platte des Sprachkurses lag immer noch auf dem Plattenspieler. Gregorius stellte ihn an. Er verglich die Stimmen mit den Stimmen in der alten Straßenbahn von Lissabon. Er fuhr von Belém ins Alfama-Viertel und mit der Metro weiter zum Liceu.
    Es klingelte. Der Türvorleger, sie erkenne immer am Türvorleger, wann er da sei, sagte Frau Loosli. Sie gab ihm ein Schreiben der Schuldirektion, das am Vortrag gekommen war. Die andere Post war unterwegs zu Silveiras Adresse. Er sehe bleich aus, sagte sie. Ob auch alles in Ordnung sei?
    Gregorius las die Zahlen der Schuldirektion und vergaß sie noch während des Lesens wieder. Er war vor der Zeit im Fotogeschäft und mußte warten. Zurück rannte er fast.
    Ein ganzer Film nur für die erleuchtete Tür von O’Kellys Apotheke. Fast immer war er mit dem Abdrücken zu spät gekommen. Dreimal hatte es geklappt, und der rauchende Apotheker war zu sehen. Das wirre Haar. Die große, fleischige Nase. Die ewig verrutschte Krawatte. Ich begann, Jorge zu hassen. Seit er von der Geschichte mit Estefânia Espinhosa wußte, dachte Gregorius, kam ihm O’Kellys Blick verschlagen vor. Gemein. Wie damals, als er am Nebentisch zusah, wie ihm das widerliche Geräusch zu schaffen machte, mit dem Pedro im Schachclub alle paar Minuten den Rotz hochzog.
    Gregorius ging mit den Augen ganz nah an die Fotos heran. Wo war der müde und gütige Blick, den er früher in dem bäurischen Gesicht gesehen hatte? Der Blick mit der Trauer über den verlorenen Freund? Wir waren wie Brüder. Mehr als Brüder. Ich dachte wirklich, wir könnten uns nie verlieren. Gregorius fand die früheren Blicke nicht mehr. Sie ist einfach nicht möglich, die grenzenlose Offenheit. Sie geht über unsere Kräfte. Einsamkeit durch Verschweigenmüssen, auch das gibt es. Jetzt waren sie wieder da, die anderen Blicke.
    Ist die Seele ein Ort von Tatsachen? Oder sind die vermeintlichen Tatsachen nur die trügerischen Schatten unserer Geschichten? , hatte sich Prado gefragt. Das galt, dachte Gregorius, auch für Blicke. Blicke waren nicht da und wurden gelesen. Blicke waren stets hineingelesene Blicke. Nur als hineingelesene gab es sie.
    João Eça in der Dämmerung auf dem Balkon des Heims. Ich werde keine Schläuche wollen, keine Pumpe. Nur, damit es ein paar Wochen längert dauert. Gregorius spürte den heißen, brennenden Tee, den er aus Eças Tasse getrunken hatte.
    Die Bilder von Mélodies Haus waren in der Dunkelheit nichts geworden.
    Silveira, der auf dem Perron die Zigarette gegen den Wind abschirmte, um sie anzünden zu können. Heute fuhr er wieder nach Biarritz und würde sich, wie schon so oft, fragen, warum er weitermachte.
    Gregorius ging die Bilder noch einmal durch. Dann noch einmal. Die Vergangenheit begann, unter seinem Blick zu gefrieren. Das Gedächtnis würde
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