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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Autoren: Pascal Mercier
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geworden.
    Warum bloß ist der offene Blick so schwer? Wir sind träge Wesen, des Vertrauten bedürftig. Neugierde als seltener Luxus auf gewohntem Grund. Fest stehen und mit dem Offenen spielen können, in jedem Augenblick, es wäre eine Kunst. Man müßte Mozart sein. Ein Mozart der offenen Zukunft.
     
    San Sebastián. Gregorius sah in den Fahrplan. Bald würde er in Irún in den Zug nach Paris umsteigen müssen. Die Frau schlug die Beine übereinander und las weiter. Er nahm die letzte Aufzeichnung aus dem versiegelten Umschlag zur Hand.
     
    MINHA QUERIDA ARTISTA NA AUTO-ILUS Ã O. MEINE GELIEBTE VIRTUOSIN DES SELBSTBETRUGS . Viele unserer Wünsche und Gedanken lägen für uns selbst im dunkeln, und die anderen wüßten darüber manchmal besser Bescheid als wir selbst? Wer hat jemals etwas anderes geglaubt?
    Niemand. Niemand, der mit einem anderen lebt und atmet. Wir kennen einander bis in die kleinsten Zuckungen des Körpers und der Worte hinein. Wir wissen und wollen oft nicht wissen, was wir wissen. Besonders dann, wenn die Lücke zwischen dem, was wir sehen, und dem, was der andere glaubt, unerträglich groß wird. Es bedürfte göttlichen Muts und göttlicher Stärke, um mit sich in vollkommener Wahrhaftigkeit zu leben. So viel wissen wir, auch von uns selbst. Kein Grund zur Selbstgerechtigkeit.
    Und wenn sie eine wahre Virtuosin des Selbstbetrugs ist, mir immer eine Finte voraus? Hätte ich dir entgegentreten und sagen müssen: Nein, du machst dir etwas vor, so bist du nicht ? Das bin ich dir schuldig geblieben. Wenn ich es dir denn schuldig war.
    Woher weiß einer, was er dem anderen in diesem Sinne schuldig ist?
     
    Irún. Isto ainda não é Irún , das ist noch nicht Irún. Das waren die ersten portugiesischen Worte gewesen, die er zu jemandem gesagt hatte. Vor fünf Wochen, und auch im Zug. Gregorius wuchtete den Koffer der Frau herunter.
    Kurz nachdem er im Zug nach Paris Platz genommen hatte, ging die Frau an seinem Abteil vorbei. Sie war fast wieder verschwunden, da hielt sie inne, beugte sich zurück, sah ihn, zögerte einen Moment und kam dann herein. Er tat ihren Koffer auf die Ablage.
    Sie habe diesen langsamen Zug gewählt, sagte sie auf seine Frage, weil sie dieses Buch lesen wolle. LE SILENCE DU MONDE AVANT LES MOTS . Sie lese nirgendwo so gut wie im Zug. Nirgendwo sei sie so offen für Neues. So sei sie zur Expertin für langsame Züge geworden. Sie fahre auch in die Schweiz, nach Lausanne. Ja, genau, Ankunft morgen früh in Genf. Offenbar hätten sie sich beide denselben Zug ausgesucht.
    Gregorius zog den Mantel vors Gesicht. Sein Grund für den langsamen Zug war ein anderer gewesen. Er wollte nicht in Bern ankommen. Er wollte nicht, daß Doxiades den Hörer nahm und ein Klinikbett reservierte. Bis Genf waren es vierundzwanzig Stationen. Vierundzwanzig Gelegenheiten auszusteigen.
    Er tauchte, immer steil nach unten. Die Fischer lachten, als er mit Estefânia Espinhosa durch Silveiras Küche tanzte. All diese Klöster, von denen aus man in all diese leeren, hallenden Wohnungen trat. Ihre hallende Leere hatte das Homerische Wort ausgelöscht.
    Er schreckte auf. Λ ίοтϱον . Er ging auf die Toilette und wusch sich das Gesicht.
    Während er schlief, hatte die Frau die Deckenbeleuchtung gelöscht und ihr Leselämpchen angemacht. Sie las und las. Als Gregorius von der Toilette zurückkam, blickte sie einen kurzen Moment lang hoch und lächelte abwesend.
    Gregorius zog den Mantel vors Gesicht und stellte sich die lesende Frau vor. Ich stand ganz zufällig hier, Du standest ganz zufällig dort, dazwischen die Champagnergläser. So war es. Nicht anders.
    Sie könnten zusammen ein Taxi zum Gare de Lyon nehmen, sagte die Frau, als sie kurz nach Mitternacht in Paris einfuhren. LA COUPOLE . Gregorius atmete das Parfum der Frau neben sich. Er wollte nicht in die Klinik. Er wollte nicht Klinikluft riechen. Die Luft, durch die er sich hindurchgekämpft hatte, wenn er die sterbenden Eltern in den stickigen, überheizten Dreierzimmern besucht hatte, wo es nach dem Lüften immer noch nach Urin roch.
    Als er gegen vier Uhr früh hinter seinem Mantel aufwachte, war die Frau mit dem offenen Buch im Schoß eingeschlafen. Er löschte das Leselämpchen über ihrem Kopf. Sie drehte sich zur Seite und zog den Mantel vors Gesicht.
    Es wurde hell. Gregorius wollte nicht, daß es hell wurde.
    Der Kellner des Speisewagens kam mit dem Getränkewagen vorbei. Die Frau wachte auf. Gregorius reichte ihr einen Becher
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