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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume
Autoren: A Michaelis
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ihren zuckenden Ohren, die schlauen Füchse, denen das rote Fell verräterisch aus dem Kragen lugte; er sah Zahnräder und keimende Pflanzen zwischen den teuren Markenpullovern und unter den Jeans, sah Maulkörbe und glatte Echsenschuppen, Gesichter aus Stein und aus Holz. Er sah Fingerabdrücke, wo andere nur unverletzte Haut sahen, und Flammen, wo andere Haare glaubten.
    Und über alldem, dirigierend, kommandierend: die Ziesel, unter deren wippender Dauerwelle Frederic vergeblich die Ohren suchte, die er gestern noch gesehen hatte. In Wirklichkeit hatte sie keine. Sie hörte überhaupt nicht, was man zu ihr sagte. Sie sah nur die Zahlen auf der Tafel und in den Heften. In Frederics Kopf begann die Welt sich zu drehen. Oder war es sein Kopf, der sich drehte? Nach der ersten Stunde riss er das Fenster auf, atmete die Herbstluft tief ein und schloss die Augen.
    Als er sie wieder öffnete, war die Ziesel fort, und an ihrer Stelle hatte Claudius mit der Lateingrammatik unter dem Arm das Klassenzimmer betreten. Aber es hörte nicht auf. Es hörte nicht auf.
    Claudius besaß keinen Kopf mehr. Oder besser gesagt: Er besaß einen Kopf, aber es war der Kopf eines Karpfens. Wenn er den Mund öffnete, kamen nur Blasen heraus, die bis unter die Decke schwebten und dort mit einem feuchten »Plöpp« zerplatzten. Offenbar diktierte Claudius, denn alle anderen beugten sich über ihre Hefte und schrieben fleißig mit. Nur Frederic konnte nichts aufschreiben. Er konnte nichts verstehen. Es gab nichts zu verstehen. Claudius sagte nichts.
    Frederic beobachtete mit offenem Mund, wie Claudius durch die Kiemen über seinem Hemdkragen atmete. Irgendwann fragte er Frederic etwas, doch bei Frederic kam nichts an als eine Abfolge von drei verschieden großen Blasen. Er schüttelte verwirrt den Kopf und die Klasse lachte.
    »Frederic der Träumer!«, rief jemand von hinten. »Er hat keine Ahnung, worum es geht!«
    In der Pause saß Frederic auf seiner Bank unter der knispernden Kastanie und hielt die Augen fest geschlossen. All diese Bilder! Es war zu viel. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, die Tropfen aus dem Fläschchen zu schlucken. Vielleicht war all dies nicht wahr. Vielleicht war er krank. Oder er hatte Halluzinationen. Vielleicht waren in dem Fläschchen Drogen gewesen, kein Vitamin A. Er sehnte sich mit einem Mal danach, eine gewöhnliche Erklärung für die Dinge zu finden. Wenn er sich ein paar Tage ins Bett legte, wäre sicher alles vorbei.
    »Es wird wieder Zeit, Herr Direktor«, hörte er da plötzlich Josephine sagen.
    »Bei wem?«, fragte HD Bruhns’ Stimme. Die beiden standen hinter der Kastanie und glaubten sich unbelauscht.
    Frederic verlagerte sein Gewicht, die Bank knarzte und das Gespräch verstummte. Sie hatten ihn bemerkt. Verdammt.
    Die nächste Stunde gehörte ohnehin HD Bruhns, und Frederic folgte ihm zögernd ins Klassenzimmer. Bruhns sah nicht verändert aus. Nur sein Schatten wirkte noch dunkler als auf dem Lehrerfoto. Schwarz beinahe. Als er ans Pult trat und die Klasse verstummte, war er mit einem Stapel Papier bewaffnet.
    Josephine reckte sich erwartungsvoll, als wäre HD Bruhns der Weihnachtsmann und der Stapel bestünde aus Geschenken.
    »Ich möchte euch heute die Gedichtinterpretationen zurückgeben«, erklärte Bruhns und warf Frederic einen Blick zu. Frederic wand sich.
    »Wie nicht anders zu erwarten, haben die meisten von euch exzellente Zensuren erreicht«, fuhr Bruhns fort. »Was mich mit Euphorie erfüllt. In den sechs Wochen, in denen ihr St. Isaac visitiert habt, habt ihr schon viel gelernt. Ihr seid auf dem idealen Weg. Nur Frederic der Träumer hat mich mal wieder enttäuscht.« Bruhns räusperte sich. »Eine sehr kreative und ironische Lösung, lieber Frederic. Darf ich zitieren: Blablabla.«
    Er reichte Frederic das oberste Blatt, auf dem eine rote Sechs zu sehen war. Dabei beugte er sich dicht zu ihm hinunter und lächelte wieder, und jetzt sah Frederic, dass etwas mit seinem Lächeln nicht stimmte: Bruhns besaß zwei Doppelreihen glänzender, scharfer Zähne. Sein Mund war Frederic ganz nahe. Er spürte die Lust in Bruhns, zuzubeißen. Entsetzt wich er zurück – und da biss ihn wirklich etwas. Doch es war nicht Bruhns. Es biss ihn in die rechte Schulter, flink und flüchtig, aber diesmal reagierte Frederic schnell genug, um es zu erkennen: Josephine zog eben ihre Hand weg.
    Frederic starrte ihre Finger an. Und endlich verstand er: An jeder Fingerspitze, direkt unter den fein
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