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Nach dem Amok

Titel: Nach dem Amok
Autoren: Myriam Keil
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jetzt.
    Â»Maike, brauchst du eine Extraeinladung?«, erkundigt sich mein Englischlehrer.
    Als ich die Klasse betrete und alle mich anstarren, fühle ich mich, als hätte ich einen Kampf auszufechten, der weit über das hinausgeht, was mir bislang bewusst war, und in dem jeder meiner Schritte, jede Geste, jedes Wort über Sieg oder Niederlage entscheiden könnte.

3
    Früher stieg der Dampf vor meinen Augen aus den Schüsseln auf. Das Essen stand auf dem Esstisch und jeder konnte sich etwas davon nehmen. Kartoffeln oder Reis, Knödel oder Nudeln, Fisch, Rotkohl, grüne Bohnen oder Kaisergemüse, Fleisch und Soße. Jetzt stehen die Schüsseln nicht mehr auf dem Tisch, das Essen verbleibt in der Küche in den Töpfen. Sie ist erleichtert, wenn sie aufstehen und in die Küche gehen kann, um jemandem einen Nachschlag zu holen. Sie erträgt es kaum noch, mit uns an diesem stillen Tisch zu sitzen.
    Â»Gibst du mir bitte mal den Pfeffer«, sagt er.
    Die Gespräche beschränken sich auf das Essen an sich und auf Notwendiges. Damit kann man ein bisschen von der stillen Zeit ausfüllen, aber selbst dieses Reden ist nur ein Warten auf das nächste Schweigen.
    Sie und ich haben gleichzeitig nach dem Pfeffer gegriffen, um ihn herüberzureichen. Auch das Bewegen von Gegenständen hilft gegen die Stille. Ich war schneller und gebe ihm die Pfeffermühle. Als er sie entgegennimmt, berühre ich seine Hand kurz mit den Fingerspitzen. Er zuckt zurück, weil er die Berührung nicht erwartet hat. Oder weil er vergessen hat, wieso man sich berührt, wenn man eine Familie ist.
    Â»Was gibt es in der Schule?«, fragt sie.
    Â»Schneider ist zurück«, sage ich.
    Das wollte sie nicht hören. Sie will nur noch hören, was nichts mit jenem Tag im Januar zu tun hat. Ich hätte sagen dürfen: Schneider hat uns viele Hausaufgaben aufgegeben. Oder: Schneider hat einen Test mit uns geschrieben, ich habe ein ganz gutes Gefühl. Aber nicht, dass er wieder zurück ist. Denn das bedeutet, dass er fort war, und sie weiß, wie wir alle, warum er fort war.
    Ich möchte reden. Jedes Mal an diesem Tisch möchte ich reden; nicht wie früher, das verlange ich nicht, doch ich möchte über das Geschehene sprechen dürfen und keine Themen aussparen müssen, nicht ununterbrochen auf vermintem Gelände unterwegs sein, in ständiger Angst, den Fuß auf eine falsche Stelle zu setzen. Er aber möchte nicht reden. Sie möchte reden, kann es jedoch nicht. So geht es jeden Tag mit uns.
    Â»Das sind Clementinen aus dem Supermarkt, oder?«, sagt er und zeigt auf das Netz, das noch im Einkaufskorb liegt, der Korb steht neben der Küchentür auf dem Boden. »Warst du gar nicht auf dem Markt?«
    Sie erwidert nichts, aber ihre Augen werden wässrig. Er sieht sie nur flüchtig an, ich glaube nicht, dass er etwas von ihrem Zustand bemerkt.
    Â»Hm?«, fragt er weiter.
    Â»Nein, ich war nicht auf dem verdammten Markt! Und ich werde da auch nicht mehr hingehen!«
    Jetzt sieht er sie richtig an, vollkommen perplex begegnet er ihren geröteten Augen, sie hält die Tränen zurück. Ich bin ebenfalls erschrocken. Sie ist schon lange nicht mehr laut geworden und nun flippt sie aus wegen so einer banalen Frage.
    Â»Was ist denn passiert, Mama?«, frage ich vorsichtig, und das Wort Mama ist mir so vertraut und fühlt sich trotzdem irgendwie sperrig an, als es über meine Lippen kommt. Ich weiß nicht mehr, wie ich mit ihr umgehen soll. David konnte das immer wesentlich besser als ich: sie trösten, aufheitern, ihre Launen verstehen oder einfach nur die richtigen Worte finden. Er war ihr viel ähnlicher, als ich es bin. Trotzdem war auch ich meist in der Lage, ihre Stimmung einzuschätzen und entsprechend zu reagieren. Jetzt kann ich das überhaupt nicht mehr und David ist der Grund dafür.
    Â»Wenn ihr das wirklich wissen wollt, bitte sehr!«, schnaubt sie.
    Sein Blick ist mittlerweile wieder nach unten gerichtet. Sie bezieht ihn in das Wissenwollen mit ein, obwohl ihr klar sein muss, dass er es vielleicht lieber nicht wüsste. Unruhig wandern seine Augen auf dem Tisch herum, entfernen sich dabei jedoch nie weiter als etwa zwanzig Zentimeter von seinem Teller. Da ist ein unsichtbarer Radius um seinen Teller herum, eine Bannmeile, die er nicht überschreiten will. Dahinter nimmt er wahrscheinlich dasselbe Minenfeld wahr wie
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