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Mystik des Herzens

Mystik des Herzens

Titel: Mystik des Herzens
Autoren: Ingrid Riedel
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berufen sich auch nicht alle auf Gott –, die unter ihrem Namen überliefert sind. Sie hat treulich gesammelt, was sie an Heilsamem fand, wie man das in der alternativen Medizin auch heute tut, und nahm auch das Wissen der Kräuterfrauen ernst. Hildegard wird zu den wichtigsten Gestalten der Medizingeschichte gezählt. Dafür ist charakteristisch, dass der Heidelberger Medizinhistoriker, Heinrich Schipperges, als erster ihre wichtigsten Werke, vor allem auch die naturkundlichen, aus dem Mittellateinischen ins heutige Deutsch übersetzte, so dass sie zugänglich wurden. Heinrich Schipperges hat Hildegards historische Medizin medizinhistorisch gewürdigt und sie in mehreren Veröffentlichungen kompetent und inspiriert beschrieben. 21
    Hildegards Sicht der Natur ist vor allem dadurch ausgezeichnet, dass sie den ganzen Makrokosmos und damit auch den Mikrokosmos des menschlichen Organismus von einer einheitlichen Kraft durchwirkt sieht. Allein darin ist sie genial. Sie erkennt die Wirksamkeit einer einheitlichen Energie im menschlichen Körper wie im gesamten Kosmos, eine einzigartige Vorstellung Hildegards in jener Zeit, die wir nirgendwo vorher und nachher finden: es ist die Energie der nobilissima viriditas , der »alleredelsten Grünheit«, die Farbenergie der Hoffnung, die sowohl die Natur wie auch das Vegetativum des menschlichen Körpers durchwirkt. Dieses alleredelste Grün ist in der Pflanze, im Blattgrün, im Chlorophyll, aber ebenso im menschlichen Körper vorzustellen, vor allem auch in der menschlichen Seele.
    Viriditas ist eine symbolische Hoffnungskraft, eine Wachstumskraft überhaupt: das heilige Grün! Diese alleredelste Grünheit hat sie in einer ihrer schönsten Hymnen beschrieben, mit folgenden Worten:

    »Oh edelstes Grün
    das wurzelt in der Sonne
    und leuchtet in klarer Heiterkeit
    im Rund eines kreisenden Rades
    das die Herrlichkeit des Irdischen nicht fasst
    umarmt von der Herzkraft himmlischer Geheimnisse
    rötest du wie das Morgenlicht
    und flammst wie der Sonne Glut
    du Grün bis umschlossen von Liebe.« 22

    Malen wir uns die Bilder, die sie für das Grün findet, noch einmal aus. Als das Grün von der Herzkraft himmlischer Geheimnisse umarmt wird, da erglüht es, da errötet es, da wandelt es sich in die Komplementärfarbe und Komplementärkraft des Rot. Mit den beiden Farben Rot und Grün und deren Energetik arbeitet Hildegard immer wieder. Das Rot ist ihr so nahe wie das Grün, es ist für sie der Feueratem Gottes, die flammende Liebe, die für sie vor allem von der Gestalt Christi ausstrahlt.
    Doch auch das Grün gewinnt in einer ihrer Visionen Gestalt, gleichsam göttliche Gestalt. 23 Es erscheint als eine Frauengestalt in einem grünen Seidenmantel, die das Rad des Kosmos von innen her erfüllt. Die Frauengestalt hält dieses kosmische Rad nicht von außen in der Hand, lässt es nicht von außen laufen, sondern sie erfüllt dieses Rad, das für sie zugleich der kosmische Kreis ist, von innen. Für Hildegard ist diese Frau die Verkörperung der Grünkraft, ist »Frau Weisheit«, ist Sophia. So gewinnt Hildegard ein individuell geprägtes, ein neu erfahrenes Gottesbild aus ihrer Schau. Die »Sophia« erscheint zwar schon in der Bibel, in den spätesten Büchern des Alten Testaments, aber sie ist in der Geschichte der Christenheit, vor allem der westlichen, bisher nur wenig wirksam geworden. Andere Vorstellungen und Themen haben sich in den Vordergrund gedrängt. Jedoch diese Frau Hildegard im 12. Jahrhundertschaut den Kosmos erfüllt von einer weiblich symbolisierten Kraft, der heiligen Grünheit. Die grüne Sophia trägt hier zwei Tafeln, ähnlich wie man Mose oft mit den beiden Gesetzestafeln dargestellt findet, aber es sind hier keine Gesetzestafeln, sondern Tafeln in strahlendem Weiß, ohne Text. Darauf ist kein Sondertext geschrieben, es sind keine Gebote, sondern auf diesen Tafeln leuchtet das volle Licht, das ungeschriebene Gesetz der Natur, das weiße Licht, das alle anderen Farben in sich enthält, die erst durch Brechung entstehen. Hier leuchtet gleichsam das »ungeschriebene Gesetz« der Natur selber auf. Diese große Schau der grünen Sophia ist für mich eines der eindrucksvollsten Bilder 24 aus Hildegards »Kosmosschrift«, dem liber divinorum operum , die Hildegard erst im Alter verfasst hat. Die zugehörigen Bilder aus dem »Codex von Lucca« sind allerdings nicht von ihr gemalt. Der Codex ist auch erst nach ihrer Lebzeit entstanden. Die zugehörigen Bilder sind entweder
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