My Lady 0145 - Sheila Bishop - Der geraubte Kuss
ihr nichts anderes übrig, als es auszuziehen und in der Sonne trocknen zu lassen.
Glücklicherweise war sie im Park niemandem begegnet, so daß nicht die Gefahr bestand, von einem anderen Besucher überrascht zu werden. Hastig entledigte sie sich des Kleides, wrang es so fest wie möglich aus und breitete es auf dem nächsten Busch aus. Rasch drückte sie dann die Nässe aus der dünnen Chemise und näherte sich, argwöhnisch den vom Brunnen auf den Rasen sprühenden Strahl im Auge behaltend, dem Becken, um das Wasser abzustellen. Sie griff nach dem Rädchen und merkte zu ihrem Entsetzen, daß es sich nicht bewegen ließ. Verzweifelt strengte sie sich an, gab die Bemühungen jedoch schließlich erschöpft auf. Im gleichen Moment, als sie sich abwandte und sich ratlos fragte, was sie nun tun sollte, hörte sie hinter sich eine Männerstimme sagen: „Welch bezaubernder Anblick! Die schaumgeborene Venus!“ Wie erstarrt blieb sie stehen und begriff, daß Mr. Brooke auf der anderen Seite des Brunnens war und durch den auf die Wiese spritzenden Wasserschwall nur den oberen Teil ihres Rückens sehen konnte. Er kam jedoch rasch näher und würde bald mehr erkennen können. Entsetzt drängte sie sich in die Büsche und versteckte sich im dichten Laub.
Tom hielt an der dem Wasserstrahl gegenüberliegenden Seite des Brunnens an, stellte die Fontäne mit dem dort verborgenen Rädchen ab und sagte grinsend:
„Das ist ein typisches Beispiel für Lord Canfields Humor! Nicht jeder weiß ihn zu schätzen. Aber ich kenne den Trick und kann die Wasserspiele anstellen.
Kommen Sie zu mir, Miss Fenimore. Wir setzen uns in die Gloriette und plaudern ein wenig. Von dort können Sie den Brunnen in seiner ganzen Pracht bewundern.“
„Vielen Dank, Mr. Brooke, aber nicht heute. Ich hatte keine Ahnung, daß außer mir noch jemand im Park ist, und bin bereits auf dem Weg nach Haus.“
„Wie schade! Bei meinen Besuchen in Rosamond's Bower finde ich nicht oft so reizende Gesellschaft. Ich möchte Sie wirklich nicht vertreiben. Warum kommen Sie nicht aus den Büschen, Miss Fenimore? Sie haben doch keinen Grund, sich vor mir zu fürchten. Oder liegt es an Ihrem übersteigerten Sinn für Schicklichkeit, daß Sie sich nicht mit mir unterhalten wollen? Stört es Sie, daß wir allein sind?“
Oliviabiß sich auf die Unterlippe. „Könnte ich mich ein bißchen später zu Ihnen gesellen?“ fragte sie zögernd. „In einem anderen Teil des Parkes? Vielleicht macht es Ihnen Spaß, ihn mir zu zeigen?“
„Heute ist es sehr heiß“, wandte Tom ein. „Ich ziehe es vor, hier zu bleiben und die Aussicht zu betrachten. Tun Sie, was Ihnen beliebt, Madam.“ Genau das war ihr verwehrt. Sie konnte Mr. Brooke nicht sehen und war überzeugt, daß auch er sie im Gebüsch nicht erkennen konnte, aber bestimmt hatte er das zum Trocknen ausgebreitete Kleid bemerkt. Dann wußte er, daß sie nicht präsentabel war und den Schutz der Sträucher nicht verlassen konnte.
Bestimmt nutzte er diesen Umstand aus. Jeder andere Mann hätte sich unverzüglich entfernt, doch er war alles andere als ein Gentleman.
Sie vernahm Geräusche, bog behutsam die Äste auseinander und sah, daß er zur Gloriette schlenderte. Plötzlich war er ihrer Sicht entzogen, doch sie hörte ihn murmeln: „Welch zauberhaftes Fleckchen Erde! Man fühlt sich an das Paradies erinnert.“
Betroffen fragte sich Olivia, wie lange sie noch in ihrem Versteck ausharren mußte. Nach dem Guß aus der Fontäne war ihr kalt, denn die Sonne drang nicht durch das Geäst. Die Minuten kamen ihr wie eine Ewigkeit vor, und sie wurde zunehmend mutloser.
„Wo sind Sie, Miss?“ rief eine weibliche Stimme.
Unwillkürlich zuckte Olivia zusammen. Die Frau war ganz in der Nähe.
„Haben Sie keine Angst, Miss! Ich bin hier, um Sie ins Haus zu begleiten. Mr.
Brooke sagte, Sie hätten die verflixte Fontäne angestellt und seien naß geworden.“
Olivia sah eine kleine, etwas füllige ältere Frau, die eine weiße Schürze trug, um den Brunnen kommen.
„Ah, da ist Ihr Kleid“, sagte Emma Bird und nahm es vom Busch. „Du meine Güte, es ist ganz zerknittert.“
„Bitte, geben Sie es mir!“ erwiderte Olivia drängend. „Ich bin hier, hinter dem Busch, und kann nicht ins Freie kommen. Ein Glück, daß Sie da sind und mir helfen können.“
„Bitte sehr, Miss.“ Emma streckte den Arm durch die Äste und reichte ihr das Kleid. „Ich kann gut verstehen, daß Sie sich erst anziehen wollen, ehe Sie sich
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