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Mutti packt aus

Mutti packt aus

Titel: Mutti packt aus
Autoren: Lotte Kühn
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Schwall auf meine Bettkante. Im morgendlichen Halbdunkel davor steht mein Jüngster und sieht aus wie das Phantom der Oper im Zwergenformat. Er schlottert erbärmlich, Tränen fließen über das verschmierte Gesicht, und sofort beißt mich ein abgrundtiefes, schlechtes Gewissen, weil ich nachmittags zuvor so herzlos war, einen Dreijährigen wegen unerträglicher Quengelei zusammenzustauchen. Es ist doch immer dasselbe: erst sind sie unausstehlich, dann sind sie krank.
    Zärtlich murmelnd beseitige ich das kleine Malheurchen und entwerfe in Windeseile Plan B. Kindergarten fällt natürlich flach. Stattdessen überrede ich den Kinderarzt zu einem Hausbesuch. Er macht zuerst die üblichen Untersuchungen und dann ein zuversichtliches Gesicht, als er dem Ganzen einen Namen gibt: Virus.
    Bettruhe, viel trinken und in drei Tagen ist alles wieder gut. Kein Grund zur Beunruhigung. Kein Grund, eine Checkliste für lebenslange Pflegebedürftigkeit auszuarbeiten oder mich schluchzend zu beklagen, weil ich mich an einen robusten Dreijährigen gewöhnt habe und jetzt mit einem siechen, leidenden Kind den Himmel anflehe. Kein Grund, leidenschaftliche Debatten über Kortison, Antibiotika und homöopathische Kügelchen anzuzetteln, um beim Kinderarzt als kompetente Partnerin zu reüssieren, die sich nachts mal eben zu einer Kapazität in der Kinderheilkunde weitergebildet hat. Soviel ich verstanden habe, ist eine Virusinfektion eine Krankheit, über die der Arzt nichts Genaues weiß, um die er sich keine großen Sorgen macht und die immer gerade jetzt ganz viele haben. Jedenfalls, wenn sie mit Kindern zu tun kriegen, die den ganzen Tag mit Kindern zu tun haben. Wie wahr. Dabei sind die Viren, die Kinder natürlich immer nacheinander so anschleppen, meistens eher harmlos – für die Kinder. Das Abwehrsystem der Mütter dagegen ächzt im Kugelhagel der Rotz-Spotz-Kotz-Viren und beginnt im Beschuss der Bazillenhorden bedrohlich zu wanken. Den Kindern läuft die Nase, wir plagen uns wochenlang mit Gliederschmerzen, ernähren uns vorwiegend von Aspirin C und beteuern tapfer, es ist nichts. Sie liegen mit roten Punkten am ganzen Körper im Bett, schlecken Eis und schauen Tierfilme an. Wir kriegen Masern und fühlen uns wie der Tod auf Stelzen. Sie kriegen Windpocken, bei uns bricht die Gürtelrose aus. Sie sind schließlich jung und stark. Wir sind alt und anfällig. Also ich jedenfalls.
    Kranke Kinder muss man kenntnisreich pflegen und behutsam aufmuntern, ganz klar. Ist das rosige Gesichtchen meines Jüngsten, das unter meiner liebevollen Pflege schon bald wieder aufleuchtet, nicht der schönste Lohn, selbst wenn meine eigenen roten Augen irgendwie an brennende Irrenhausfenster erinnern? Wenn er den ganzen Tag auf dem Sofa liegen will, darf er das. Beim kleinsten Mucks reiche ich Tee, Saft oder Wasser, serviere schonende Krankenkost, arrangiere Apfelschnitzchen, bringe Wärmflaschen, kühle Kompressen und weiche Kissen. Wenn er schläft, renne ich in die Videothek, um seine Lieblingsfilme auszuleihen. Kein Wunder, dass er fast schneller wieder gesund geworden ist, als ihm lieb war.

Ausreden
    Feixend stehen meine Kinder in der Küche, als sie zum ersten Mal mitanhören, wie ich dem Redakteur am anderen Ende der Leitung honigsüß erkläre: »Ach herrje, schade. Liebend gerne würde ich heute Abend die Jahreshauptversammlung des schwul-lesbischen Minigolfclubs besuchen und, na klar, den Text noch heute liefern. Aber es tut mir unendlich leid, ich sitze hier fest, verstehen Sie, die Kinder …«
    Es gehört zu den praktisch total verkannten Aspekten des Lebens mit Kindern, wie gut man die erfreuliche Tatsache ihrer puren Existenz und ihres empfindlichen Immunsystems als Ausrede gebrauchen kann. Jeder, der Kinder hat, die sich bei anderen Kindern mit Krankheiten anste cken, wird zugeben, dass er die lieben Kleinen schon irgend wann einmal benutzt hat, um einen geordneten Rückzug glaubwürdig zu begründen. »Ich würde ja so gerne zu euch kommen und eure Urlaubsdias anschauen, nur hat jetzt der Babysitter abgesagt und so schnell kriege ich keinen Ersatz«, flöte ich ungerührt. »Natürlich möchte ich euch beim Umzug helfen, ist doch Ehrensache, aber mit drei kleinen Kindern …«, seufze ich und schiebe sicherheitshalber nach, »Ihr wisst ja, wie das ist.« Sogar wenn das schlechte Gewissen anklopft, bin ich gewappnet. »Klar, wir besuchen dich viel zu selten«, pariere ich den vorwurfsvollen Ton, mit dem die Oma meiner Kinder ihre
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