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Moskauer Diva

Moskauer Diva

Titel: Moskauer Diva
Autoren: B Akunin
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diese beginne zu bluten, würde wieder empfindsam und schutzlos.
    Noch einmal schloss Fandorin die Augen, weil er es nicht ertrug – in der Szene von Lisas Sündenfall, die der Regisseur äußerst kühn, ja, naturalistisch gestaltet hatte. Ein Scheinwerferstrahl riss einen nackten Mädchenarm mit ausgestreckten Fingern aus dem Dunkel; dann knickte er ab wie ein welker Stängel und sank nieder.
    »Ach, diese Lointaine!«, rief Zarkow aus, als alle applaudierten.»Wundervoll, wie sie spielt! Nicht schlechter als die selige Kommissarshewskaja!«
    Fandorin warf ihm einen wütenden Blick zu. Er fand diese Worte blasphemisch. Erast Petrowitsch ärgerte sich immer mehr über den Besitzer der Loge. Mehrmals kamen Leute herein und flüsterten mit ihm – und das nicht nur, wenn Lisa, also Elisa Lointaine, nicht auf der Bühne war. Während der musikalischen Intermezzi beugte sich der gesprächige Nachbar über die Sessellehne und teilte ihm seine Eindrücke mit oder erzählte ihm etwas über das Theater oder die Schauspieler. Über den Jugendlichen Liebhaber Smaragdow sagte er zum Beispiel geringschätzig: »Ein Partner unter ihrem Niveau.« Erast Petrowitsch fand das nicht. Er war ganz auf seiten dieser Figur, war nicht eifersüchtig, wenn der Bühnen-Erast Lisa umarmte, und hoffte entgegen jeder Logik wie ein Kind, dieser würde sich besinnen und zu seiner Geliebten zurückkehren.
    Dem Geschwätz des erfahrenen Theaterliebhabers hörte Fandorin nur zu, wenn dieser über die Hauptdarstellerin sprach. Während einer langen, für Fandorin uninteressanten Szene im Spielkasino, wo ein befreundeter Offizier den Helden überredet, noch zu bleiben, und der Falschspieler ihn herausfordert, erfuhr Fandorin von Zarkow etwas über Elisa Altaïrskaja-Lointaine, das ihn finster dreinschauen ließ.
    »Tja, die Lointaine ist zweifellos eine Perle von großem Wert. Gott sei Dank hat sich ein Mann gefunden, der nicht an Mitteln für eine würdige Fassung spart. Ich rede von Herrn Schustrow von der ›Gesellschaft für Theater und Kinematogeraphie‹.«
    »Ist das ihr Gönner?«, fragte Erast Petrowitsch, der eine unangenehme Kälte in der Brust verspürte und sich deshalb über sich selbst ärgerte. »Wer ist er?«
    »Ein höchst begabter junger Unternehmer. Hat von seinem Vater eine Lebkuchen-und-Kringel-Fabrik geerbt. Er hat in Amerika studiert und führt seine Geschäfte amerikanisch streng. Er hatsämtliche Konkurrenten niedergewalzt und dann sein Kringelreich für sehr gutes Geld verkauft. Nun baut er ein Unterhaltungsimperium auf – ein neues, zukunftsträchtiges Vorhaben. Ich glaube nicht, dass er ein Herzensinteresse an der Altaïrskaja hat. Schustrow ist kein romantischer Mann. Es geht ihm wohl eher um eine Investition, er spekuliert auf ihr künstlerisches Potenzial.«
    Er redete noch weiter von den Napoleonischen Plänen des ehemaligen Kringelbäckers, doch Fandorin, nun beruhigt, hörte nicht mehr zu, unterbrach den Schwätzer sogar mit einer respektlosen Geste, als Lisa erneut die Bühne betrat.
    Der zweite Logennachbar drängte Erast Petrowitsch zwar keine Gespräche auf, war ihm aber nicht minder lästig. Jeden Auftritt der Altaïrskaja-Lointaine begleitete er mit Bravo-Rufen. Von seiner lauten Stimme wurden Fandorins Ohren ganz taub. Mehrfach sagte er verärgert: »Lassen Sie das! Sie stören!«
    »Pardon«, murmelte der Kornett Limbach, ohne sich von seinem gewichtigen Feldstecher zu lösen, um im nächsten Augenblick erneut loszubrüllen. »Göttlich! Bravo!«
    Die Schauspielerin hatte eine Menge begeisterter Anhänger im Saal. Seltsam, dass die Ausrufe ihr Spiel nicht beeinträchtigten – sie schien sie gar nicht zu hören. Ihr Partner Smaragdow hingegen hatte, als im Saal die ersten Frauenstimmen kreischten und zischten, die Hand auf die Brust gelegt und sich verbeugt.
    Unter anderen Umständen hätte diese Emotionalität des Publikums Fandorin abgestoßen, heute aber war er nicht ganz er selbst. Er hatte einen Kloß in der Kehle, und die Reaktion des Publikums erschien ihm nicht übertrieben.
    Ungeachtet seiner Erregung, die weniger vom Spiel der Akteure ausgelöst worden war als von seinen Erinnerungen, registrierte Fandorin, dass die Reaktion des Saals von der psychologischen Anlage der Inszenierung vorgegeben war. Komische und sentimentale Szenen wechselten sich ab, in der Schlußszene saß das Publikum still daund schluchzte leise, und als der Vorhang fiel, ertönten donnernder Applaus und Bravorufe.
    Kurz vor
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