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Mordsmöwen

Mordsmöwen

Titel: Mordsmöwen
Autoren: Sine Beerwald
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den Oststrand entlang. Dort, in einem der blau-weißen Strandkörbe, saß Knut also zuletzt mit seiner Freundin und schaute in die glutrote Sonne. Ich werde dieses Ritual nie verstehen. Natürlich starre ich auch mal dumpf brütend in die Sonne, aber mittags. Abends, zur Hauptbeutezeit, juckt es mich derart in den Flügeln, dass ich keine Sekunde still sitzen kann. Unterhalb des Leuchtturms pilgern die Menschen dann auf der Promenade im Gänsemarsch zu den Restaurants. So wie jetzt. Ich seufze innerlich. Heute wäre ein perfekter Abend für ein Festessen.
    Eine Menschengruppe stoppt vor unserem Crêpes-Stand. »Der hat doch sonst immer auf«, hören wir einen Mann sagen. »Merkwürdig«, befindet ein anderer. »Frechheit, nicht mal ein Schild«, sagt eine Frau und schaut drein, als hätten wir ihr das Abendessen geklaut. Dabei haben wir schon seit zwei Tagen nichts gegessen. Unsere Mägen sind kleingeschrumpft, als befänden wir uns auf unserer Zugroute ins Winterquartier.
    »Da oben kommt Alki angetrudelt«, ruft Helgi, der als Einziger von uns – wahrscheinlich von Heimweh geplagt – in die Ferne geschaut hat.
    Alkis Landeanflug über den Golfplatz und das Dach des Fünf-Sterne-Hotels hinweg ist gewagt, im Slalom fliegt er um die Fahnenmasten der Hafenschiffe. Das sieht nicht gut aus. Sicher, Alki hatte eine schwierige Kindheit und wurde viel vom Schnabel seines Vaters traktiert. In seiner Familie hat der Alkohol schon immer eine wichtige Rolle gespielt. Aber mit der Zeit ist die Beschaffung von diesem Zeug für ihn zum Lebensinhalt geworden. Anfangs genügten ihm die Rumrosinen im Eis, dann schlich er sich bei Sonnenuntergang an die Strandkörbe heran. Er hatte herausgefunden, dass diejenigen Menschen, die sich gegenseitig die Zungen in die Hälse stecken, nicht auf ihre Umgebung achten. So konnte er in aller Ruhe die Weinflasche im Sand umstoßen und einen über den Durst trinken. Doch auch das hat ihm irgendwann nicht mehr gereicht, und so beginnt er inzwischen schon am frühen Morgen damit, die Mülleimer auf der Promenade auszuräumen, um in den leeren Flaschen einen kleinen Morgenschluck zu finden. An besonders schlimmen Tagen stürzt er sich zur Mittagszeit ohne Rücksicht auf Verluste direkt ins Weinglas eines Touristen.
    »Fangzaun bilden!«, schreit unser Scheff, und wir stellen uns mit ausgebreiteten Flügeln nebeneinander, um Alki vor dem Absturz zu bewahren.
    Alki geht zum Landeanflug über. Das Fahrwerk hat er draußen, sieht alles richtig gut aus. Nur ein bisschen hoch fliegt er noch.
    »Tiefer!«, schreit Balthasar. »Du musst tiefer gehen!«
    Alki gehorcht aufs Wort, klappt die Flügel ein und saust wie ein Stein zu uns herab.
    »Köpfe einziehen!«, schreit unser Scheff, und im gleichen Augenblick zischt Alki über uns drüber, dass es uns die Federn aufstellt. Baron Silver de Luft sieht mit dieser neuen Hahnenkammfrisur nach Brandseeschwalbenart richtig trendy aus. Ich muss den Schnabel zusammenkneifen, um nicht in lautes Lachen auszubrechen. Harry allerdings kann nicht mehr an sich halten und kreischt, dass es jeder Lachmöwe Konkurrenz macht. Der traut sich was. Dann erst merke ich, dass seine Erheiterung nicht von unserem Scheff, sondern von Alki hervorgerufen wird. Der ist nämlich tatsächlich sicher gelandet und applaudiert sich voller Begeisterung selbst. Allerdings sitzt er einige Meter entfernt von uns auf dem Dach vom Stand des Pizzabäckers. Jetzt schaut er sich verwundert um, wo wir denn alle so plötzlich hin verschwunden sind.
    »Womit habe ich das nur verdient«, stöhnt unser Scheff, der es mit seiner Kurzsichtigkeit ohne Kopilot zu keiner besseren Landung gebracht hätte. »Alki, hierher!«
    Mit hängenden Flügeln hüpft Alki vom Dach des Pizzastands. Dessen Warenangebot riecht verführerisch, fällt aber leider nicht in unser Beuteschema, weil wir davon übel Bauchweh kriegen. Haben wir schon ausprobiert. Es nützt uns also rein gar nichts, dass die hungrige Menschenschlange heute fast bis zum Hafenbecken reicht, in dem übrigens auch die Kegelrobbe Willi lebt. Willi ist eigentlich weiblich, aber das interessiert niemanden, am wenigsten die Touristen, die wie hypnotisiert einen Euro pro Hering bezahlen, um das süße, arme, liebe Tier zu füttern – die ärmste Kegelrobbe im ganzen großen weiten Ozean. Dabei lebt sie als einzige ihrer Spezies seit Jahrzehnten freiwillig im Hafenbecken – weil sie clever ist. Dick und fett ist dieses Vieh mittlerweile und schafft es
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