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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition)
Autoren: Jed Rubenfeld
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da gibt’s eine richtig gute Arbeit für ihn. Chong ist wütend. Er schätzt, dass Leon viel Geld eingesteckt hat, sonst könnte er ja nicht nach China zurück. Als echter Chinese verlangt Chong nicht nur eine, sondern zwei Arbeitsstellen zur Belohnung, und Leon arrangiert das Ganze.«
    Tief in Gedanken versunken, hielten wir vor dem Hotel.
    »Aber eins will mir nicht in den Kopf«, grübelte Littlemore. »Warum tut Clara alles, um Nora für Banwell zu kriegen, wenn sie doch so eifersüchtig auf sie ist? Das ist doch hirnrissig.«
    »Ach, ich weiß auch nicht.« Ich stieg aus dem Wagen. »Manche Menschen haben das Bedürfnis, genau das heraufzubeschwören, was sie am meisten quält.«
    »Ist das so?«
    »Ja.«
    »Und warum?«
    »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, Detective. Das ist ein ungelöstes Rätsel.«
    »Das erinnert mich übrigens an was. Ich bin bald nicht mehr Detective. Der Bürgermeister ernennt mich zum Lieutenant.«

     
    Als wir uns am Samstagabend am Hafen in der South Street einfanden, prasselte ein sintflutartiger Regen auf unsere Gruppe herab: Freud, Jung, dem sichtlich nicht ganz wohl in seiner Haut war, Brill, Ferenczi, Jones und meine Wenigkeit. Während ihr Gepäck auf das Nachtboot von New York nach Fall River geladen wurde, zog mich Freud beiseite.
    »Sie kommen nicht mit?« Er stand unter dem Schutz seines Regenschirms, ich unter meinem.
    »Nein, Sir. Der Arzt sagt, ich soll die nächsten ein, zwei Tage nicht verreisen.«
    »Ich verstehe.« Ein Anflug von Skepsis lag in seiner Stimme. »Und Nora bleibt natürlich hier in New York.«
    »Ja.«
    »Aber das ist nicht alles, oder?« Freud strich sich über den Bart.
    Ich zog es vor, das Thema zu wechseln. »Wie stehen die Dinge mit Dr. Jung, wenn ich fragen darf, Sir?« Ich hatte von der außerordentlichen Szene gehört, die sich vor zwei Tagen zwischen Jung und Freud abgespielt hatte.
    Auch Freud wusste, dass ich davon gehört hatte. »Besser, mein Junge. Wissen Sie, ich glaube, er war eifersüchtig auf Sie.«
    »Auf mich?«
    »Ja. Mir ist klar geworden, dass er es als Verrat aufgefasst hat, als ich Ihnen die Behandlung Noras übertragen habe. Als ich ihm erklärt habe, dass das nur geschehen ist, weil Sie hier leben, hat sich die Lage zwischen uns sofort entspannt.« Er blickte hinaus in den Regen. »Aber diese Versöhnung wird nicht halten. Zumindest nicht lang.«
    »Ich verstehe Mrs. Banwell nicht, Dr. Freud«, platzte ich heraus. »Ich verstehe ihre Gefühle für Miss Acton nicht.«
    Freud überlegte. »Nun, Younger, Sie haben das Rätsel gelöst. Wirklich bemerkenswert.«
    »Nein, Sie haben es gelöst, Sir. Sie haben mich gestern Abend darauf aufmerksam gemacht, dass alle in Mrs. Banwells Bannkreis sind und dass Claras Freundschaft zu Miss Acton nicht ganz unschuldig war. Aber ich verstehe Mrs. Banwell nicht, Dr. Freud. Ich verstehe ihre Beweggründe nicht.«
    »Wenn ich raten soll, würde ich sagen, dass Nora für Mrs. Banwell ein Spiegel war, in dem sie sich gesehen hat, so wie sie vor zehn Jahren war – und in dem sie auch erkennen musste, was aus ihr geworden ist. Das würde sicherlich ihren Wunsch erklären, Nora zu verderben und ihr wehzutun. Sie dürfen die Misshandlungen nicht vergessen, die sie jahrelang als bereitwilliges Opfer eines Sadisten ausgehalten hat.«
    »Trotzdem ist sie bei ihm geblieben.« Es konnte nicht nur das Geld sein, das sie dazu bewogen hatte. »Sie war Masochistin?«
    »So etwas gibt es gar nicht, Younger, zumindest nicht in Reinform. Jeder Masochist ist auch ein Sadist. Bei Männern zumindest ist der Masochismus nie primär, sondern quasi ein gegen das Selbst gerichteter Sadismus. Und Mrs. Banwell hatte zweifellos eine stark maskuline Seite. Möglicherweise hatte sie die Vernichtung ihres Mannes schon länger geplant.«
    Ich hatte noch eine andere Frage. Aber ich war mir nicht sicher, wie ich sie aussprechen sollte, weil sie ein grundlegendes Unwissen von meiner Seite verriet. Trotzdem überwand ich mich. »Ist Homosexualität pathologisch, Dr. Freud?«
    »Sie fragen wegen Nora.«
    »Bin ich so leicht zu durchschauen?«
    »Niemand kann ein Geheimnis wirklich für sich behalten«, antwortete Freud. »Wenn seine Lippen schweigen, plappert er mit den Fingerspitzen.«
    Ich widerstand dem plötzlichen Drang, einen Blick auf meine Finger zu werfen.
    »Nein, Sie müssen sich wegen Ihrer Fingerspitzen keine Sorgen machen. Sie sind nicht so leicht zu durchschauen. Bei Ihnen, mein Junge, frage ich mich einfach, wie
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