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Mondlaeufer

Mondlaeufer

Titel: Mondlaeufer
Autoren: Melanie Rawn
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Brücke und trat zwischen die Säulen. Wieder einmal hielt sie angesichts der Schönheit dieses Ortes unwillkürlich den Atem an. Es war, als trete sie mitten in einen Regenbogen. Wenn es aber schon sie so bewegte, hier zu stehen und sich von allen Farben der Welt umarmen zu lassen, was musste dieses Erlebnis dann erst für die Faradh’im bedeuten!
    Die Nachbildung der Decke war am schwierigsten gewesen. Einige Säulen waren zerstört worden, und Audrite hatte Jahre gebraucht, bis sie erkannt hatte, wo jedes einzelne Fenster hingehörte. Die Bodenfliesen waren sorgfältig aus der Erde und dem darüber wuchernden Gras auf der anderen Seite von Dorval geborgen worden. Sie wiesen verschiedene Symbole für die Jahreszeiten auf und zeigten für jede Nacht des Jahres Stellung und Phasen aller drei Monde an. Jahrelang hatte Audrite ihre genaue Lage überprüft. Nach ihren Anweisungen waren zahlreiche neue Fliesen angefertigt worden, um jene zu ersetzen, die in dem anderen Turm vor langer Zeit ausgetreten oder zerbrochen worden waren. Ihre Berechnungen über die genauen Abstände zwischen Fliesen und Decke wie auch die Beobachtungen von Lleyns Lichtläufern, Meath und Eolie, hatten jedermann in Ehrfurcht versetzt.
    Vor einundzwanzig Jahren hatte Prinz Lleyn von Andrade, der Herrin über die Schule der Göttin und alle Lichtläufer, erfahren, dass die verlassene Burg einst den Faradh’im gehört hatte. Jahrhundertelang hatte man die Steine zum Bau anderer Gebäude – auch für Graypearl – verwendet, doch sobald Lleyn in jenem Herbst vom Rialla zurückgekehrt war, begann man mit gezielten Ausgrabungen. Dieses Meisterwerk war der bedeutendste Fund gewesen. Neben einem weiteren. Audrite ging leise über die Sommerfliesen und lächelte angesichts der einzigartigen Schönheit der Kapelle und des unvergleichlichen Glücks, dass sie ihren Sinn begriffen hatte. Das Bauwerk war wieder zu dem geworden, was es einst gewesen war: der erstaunlichste Kalender der Prinzenreiche.
    Sie hörte Schritte auf der Brücke und wandte sich um. Meath betrat die Kapelle und verneigte sich höflich. »Heute Nacht haben wir Vollmond«, sagte er und lächelte, denn er teilte ihre Freude über dieses Wissen.
    »Ihr könnt sie nutzen, um mit Prinzessin Sioned Kontakt aufzunehmen«, entgegnete Audrite.
    »Habt Ihr schon mit Pol gesprochen?«
    »Ja. Ich muss Euch noch meine Aufzeichnungen über die Schriftrollen geben.« Sie runzelte die Stirn. »Meath, glaubt Ihr, dass es wirklich richtig ist, sie jetzt Andrade zu übergeben? Sie ist sehr alt. Vielleicht hat sie keine Zeit mehr, ihre Bedeutung zu entschlüsseln. Und vielleicht wird der nächste Herr oder die nächste Herrin der Schule der Göttin mit diesem Wissen nicht umgehen können.«
    Schulterzuckend breitete der Faradhi die Hände aus. Seine Ringe glitzerten im Licht der Sonne in vielen Farben. »Ich bin sicher, dass sie uns noch alle überleben wird, und wenn auch nur aus reiner Sturheit.« Er lächelte und schüttelte dann den Kopf: »Und der andere Aspekt – zugegeben, es ist riskant. Aber mir ist es lieber, Andrade untersucht die Schriften jetzt und entscheidet, was mit ihnen getan wird, als dass wir abwarten, wer als Nächstes in der Schule der Göttin herrschen wird.«
    »Ihr habt sie gefunden«, sagte sie. »Ich habe so viele Worte wie möglich entziffert. Und die Göttin weiß, wie wenig ich wirklich verstanden habe«, fügte sie bedauernd hinzu, »doch die Verantwortung für die Schriften liegt bei Euch.«
    »Ich habe sie zwar aus den Trümmern gezogen. Dennoch würde ich lieber nicht entscheiden müssen, was mit ihnen geschieht. Wenn sie so wichtig sind, wie wir vermuten, dann ist dieses Wissen zu viel für mich. Es wäre mir wohler, wenn die Schriftrollen in Andrades Händen liegen als in meinen. Sie wird sie entweder verstehen und nutzen können oder sie vernichten, falls sie zu gefährlich sind.«
    Audrite nickte. »Kommt heute Abend in meine Bibliothek. Dann gebe ich Euch meine Aufzeichnungen.«
    »Danke, Herrin. Ich weiß, dass Andrade Eure Mühe zu schätzen wissen wird.« Wieder lächelte er. »Ich wünschte, Ihr könntet auch dort sein, um ihr Gesicht zu sehen!«
    »Das wünschte ich auch. Ich hoffe nur, der Schreck ist nicht zu viel für sie.«
    Nachdem er seine hundert Verszeilen abgeschrieben und Prinzessin Audrite ausgehändigt hatte, durfte Pol am späten Vormittag mit Meath zum Hafen hinunterreiten. An der engen Hauptstraße des Dorfes schmiegte sich ein Geschäft an das
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