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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Autoren: Salman Rushdie
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geh!»
    Ich nahm Aadam mit und ging.

    Ende der Reise: Aus der Unterwelt der blinden Kellnerinnen ging ich mit meinem Sohn auf den Armen nach Norden Norden Norden und kam schließlich dahin, wo Fliegen von Eidechsen verschluckt werden und Kessel brodeln und Frauen mit starken Armen schlüpfrige Witze erzählen, in diese Welt scharfzüngiger Vorarbeiterinnen mit konischen Brüsten, in der das Scheppern von Picklesgläsern
aus der Abfüllhalle alles andere übertönt ... und wer baute sich am Ende meines Wegs vor mir auf, mit in die Seite gestemmten Armen, auf denen die Härchen vor Schweiß glänzten? Wer fragte, direkt wie immer: «Sie da, Herr, was wollen Sie?»
    «Ich!», schreit Padma aufgeregt und von der Erinnerung ein wenig peinlich berührt. «Natürlich, wer sonst? Ich ich ich!»
    «Guten Tag, Begum», sagte ich. (Padma ruft dazwischen: «Ach du – immer so höflich und alles!») «Guten Tag, kann ich mit dem Geschäftsführer sprechen?»
    O strenge abwehrende halsstarrige Padma! «Nicht möglich, Geschäftsführer Begum ist beschäftigt. Sie müssen einen Termin ausmachen. Kommen Sie später wieder, und gehen Sie jetzt bitte.»
    Hören Sie: Ich wäre geblieben, hätte meine Überredungskunst spielen lassen, gedroht und sogar Gewalt angewandt, um an den Armen meiner Padma vorbeizukommen, aber da erscholl ein Schrei vom Steg her – diesem Steg, Padma, draußen vor den Büros –, von dem jemand, den ich bisher noch nicht nennen wollte, über gigantische Kessel mit Pickles und Chutney hinabsah, jemand, der klappernde Metallstufen herabgestürzt kam und dabei aus vollem Halse schrie:
    «O mein Gott, o mein Gott, o Jesus süßer Jesus, Baba, mein Sohn, seht, wer gekommen ist, Arre Baba, kennst du mich denn nicht mehr, ach, wie dünn du geworden bist, komm, komm, lass dich küssen, du kriegst einen Kuchen von mir!»
    Genau wie ich geahnt hatte, war die Geschäftsführer Begum von Braganza-Pickles (Privat) GmbH, die sich Frau Braganza nannte, natürlich meine ehemalige Ayah, die Verbrecherin der Mitternacht, Fräulein Mary Pereira, die einzige Mutter, die ich noch auf der Welt hatte.
     
    Mitternacht oder um die Zeit herum. Ein Mann mit einem zusammengeklappten (und unversehrten) schwarzen Schirm kommt aus der Richtung der Eisenbahngeleise auf mein Fenster zu, bleibt
stehen, hockt sich hin, scheißt. Dann sieht er mich als Silhouette vor dem erleuchteten Fenster und ruft, anstatt sich über meinen Voyeurismus zu entrüsten: «Sehen Sie sich das einmal an!», macht weiter und drückt die längste Wurst heraus, die ich je gesehen habe. «Dreißig Zentimeter!», ruft er. «Wie lang können Sie Ihre machen?» Früher, als ich noch energischer war, hätte ich seine Lebensgeschichte erzählen wollen; die Uhrzeit und der Besitz eines Schirms wären alle Verknüpfungen gewesen, die ich gebraucht hätte, um ihn in mein Leben einzuflechten, und ich hege keinen Zweifel, dass ich am Ende jedem, der mein Leben und meine verhängnisvolle Zeit verstehen will, seine Unentbehrlichkeit bewiesen hätte; nun aber bin ich nicht mehr verbunden, nicht eingestöpselt und habe nur noch Grabschriften zu verfassen. So winke ich dem Meisterscheißer, rufe zurück: «Fünfzehn, wenn ich einen guten Tag hab’», und vergesse ihn.
    Morgen. Oder übermorgen. Die Risse werden bis zum 15. August warten. Noch ist ein wenig Zeit: Ich werde morgen zu Ende schreiben.

    Heute habe ich mir einen Tag freigegeben und Mary besucht. Eine lange heiße staubige Busfahrt durch Straßen, die vor Aufregung über den kommenden Unabhängigkeitstag zu brodeln beginnen, obwohl ich auch andere, trübere Düfte riechen kann: Desillusion, Bestechlichkeit, Zynismus ... der fast einunddreißig Jahre alte Mythos der Freiheit ist nicht mehr, was er einmal war. Neue Mythen werden gebraucht; aber das geht mich nichts an.
    Mary Pereira, die sich nun Frau Braganza nennt, wohnt mit ihrer Schwester Alice, nun Frau Fernandes, in einem Apartment in dem rosa Obelisken der Narlikar-Frauen auf dem zweigeschossigen Hügelchen, wo sie einst in einem mittlerweile abgerissenen Palast auf einer Dienstbotenmatte schlief. Ihr Schlafzimmer nimmt mehr oder
weniger dieselben Kubikmeter Luft ein, in denen der deutende Finger eines Fischers ein paar Knabenaugen auf den Horizont hinwies. In einem Schaukelstuhl aus Teakholz schaukelt Mary meinen Sohn und singt «Red Sails in the Sunset». Die roten Segel von Dhaus breiten sich vor dem fernen Himmel aus.
    Ein recht angenehmer Tag, an dem man
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