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Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Titel: Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
Autoren: Margarita Kinstner
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Gefallener ist er für all jene da, die selbst ganz unten sind. Hier, in dem kleinen Kellerlokal im Bermudadreieck Wiens, heißt er Herbert Sichozky, Burning Herbie, seines Zeichens Barbesitzer und selbsternanntes Gesangstalent. Während Herbie die Gläser poliert, beobachtet er die Germanistikstudentin, die sich jeden Freitag- und Samstagabend hinter dem Tresen ihre Miete verdient. Sie weiß mit den Männern umzugehen, stachelt sie an, macht sie geil, gehen will hier keiner so bald, und so bestellen sie alle ein zweites und drittes Mal, und wenn sie ins Sinnieren kommen, stellt sie ihnen eine kleine Spende des Hauses hin – »Auf die Liebe!« –, und schon erwachen die schlaffen Lebensgeister unterhalb des Tresens und beginnen erneut zu flackern. Ein blonder Mittdreißiger mit Bürstenhaarschnitt lässt sich zuzwinkern, die Studentin schenkt ihm ein und deutet auf die Brünette an der Bar: »Na, wäre die nicht was für dich? Komm, spendier ihr was, setz dich zu ihr!« Und schon schwingt der Bürstenhaarschnitt seinen athletischen Körper Richtung Sonja, lehnt sich lässig gegen den Tresen und zündet sich eine Zigarette an. Mit zufriedenem Grinsen im teigigen Gesicht beobachtet Herbie das Geschehen. Da wird brav geflirtet und konsumiert, die gehen bestimmt nicht vor Sperrstunde. »Gut gemacht«, zwinkert er der Studentin im Vorbeigehen zu. »Du bist eben doch meine beste Kraft.«
    Und so nimmt der Abend seinen Lauf, für Sonja unten im Kellerlokal, für Jakob und Marie oben, mit ausgebreiteten Armen drehen sie sich im Regen, spür mich, schmeck mich, trink mich, die Haare werden nass und die Geschlechtsteile auch. Sie sind auf der Suche nach Zigaretten für Marie, das Kleingeld ist ihr ausgegangen, und so kommt es, dass auch sie in Sichozkys Höhle landen. Jakob schüttelt sich die Tropfen aus dem Haar und winkt die Kellnerin herbei. Anderthalb Meter weiter lehnt sich Sonja gegen den Bürstenhaarschnitt. So sieh doch her!, kreischt es in ihr, sieh her, wie sehr ich dich schon vergessen hab!, doch Jakob bemerkt den Blick der Verlassenen nicht, er ist ganz Marienanbeter, und Betende bekommen nicht viel mit von der Welt um sie herum, und schon gar nicht von der Welt der Zweifelnden und Verzweifelten.
    Auch durch Herbert Sichozky geht ein Ruck. Schnell dreht er sich zu den Spirituosen um. Jetzt läuft er seinem ehemaligen Mitschüler schon wieder über den Weg! Erst vor ein paar Tagen hat er ihn in der Straßenbahn gesehen, Gott sei Dank ist Jakob zwei Reihen vor ihm gesessen, sodass er ihn nicht bemerkt hat. Eifrig poliert er die Gläser, denn mit seinem ehemaligen Klassenkameraden will er nichts zu tun haben. Herbie hat weder das Juckpulver vergessen noch die Bananenschalen, unter denen er regelmäßig seine Brillen gefunden hat. Schade um die nette Dunkelhaarige, die da neben ihm steht, denkt er, die wird schon noch draufkommen, was für einen sie sich da geangelt hat, ein feiges Arschloch, mehr als andere demütigen und Brillen in den Mülleimer schmeißen kann der nämlich nicht. Was wollen die Frauen bloß von so einem, nur weil er ein bisschen besser aussieht? Verdrossen poliert Herbie die Whiskeygläser und sieht den beiden nach, wie sie in den Regen hinauseilen.
    Zur selben Zeit legt der Bürstenhaarschnitt seinen Arm enger um Sonjas Taille, er fühlt sich durch ihre vermeintlich zärtliche Anschmiegung ermutigt, geradezu männlich. Heute gehörst du mir, sagen seine Hände, sagt auch seine Zunge, die Besitz ergreift und Biergeschmack in Sonjas Cocktailhöhle hinterlässt.

8  Manchmal überrascht einen die Liebe auch von hinten. Ganz leise schleicht sie sich an dich heran, Katzenpfoten auf Fischgrätparkett, und stupst dir ihre feuchte Nase gegen die Wade.
    Hedi Brunner steht am offenen Fenster und sieht auf die Gasse hinunter. Von draußen weht die Sommernacht herein, wie ein verspielter Kater umschmeichelt der Vorhang die Knie der Alten. In der Luft hängt der Duft von aufgeheiztem Gras und Gewitterregen, nur in Hedis Erinnerung liegt die Stadt in Trümmern, riecht alles nach Ziegelstaub und Flieder, nach Parfümbaum und Maiglöckchen. Alles blüht in Hedis Kopf, die Parks und die Hinterhöfe, wenn schon sonst alles tot ist, die Stadt, die Häuser, die Wohnungen, die Übriggebliebenen. Wien, Wien, nur du allein, Zufluchtsort, Neubeginn und Untergang.
    Wenn ich den Ernstl früher kennengelernt hätte, denkt sie wieder und wieder, vielleicht wäre dann alles anders gekommen. Aber es ist so gekommen, wie es
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