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Mit freundlichen Küssen: Roman (German Edition)

Mit freundlichen Küssen: Roman (German Edition)

Titel: Mit freundlichen Küssen: Roman (German Edition)
Autoren: Jana Voosen
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Furchteinflößendes. Also nehme ich meinen Plan von vorhin wieder auf und laufe in den Flur zu meinem Handy. Wähle Simons Nummer. Vielleicht klärt sich doch noch alles auf.
    »Ich bin gerade nicht zu sprechen, hinterlasst eine Nachricht nach dem altbekannten Piep.«
    »Simon«, hauche ich in den Hörer. Was soll ich ihm sagen? »Bitte ruf mich zurück«, würge ich hervor und lege auf. Dann schleppe ich mich wieder in Richtung Schlafzimmer. Ein übergewichtiger, bärtiger Mann in roten Klamotten versperrt mir den Weg und schüttelt seine Päckchen, die noch vollzählig von seinem mächtigen Leib herunterbaumeln. Welches Datum haben wir heute eigentlich? Der Weihnachtsmann schielt mich freundlich und zugleich einladend an. Zögernd strecke ich die Hand aus und greife nach dem kleinen, in rot glänzendes Papier eingeschlagenen Päckchen mit der Nummer eins. Ich starre darauf und sehe plötzlich Simon vor mir, wie er an unserem großen Esstisch sitzt, vierundzwanzig sorgsam ausgewählte Kleinigkeiten vor sich aufgebaut, und mit seinen zwei linken Händen das Geschenkpapier darumwickelt. Ich lasse das Ding fallen wie eine heiße Kartoffel und stolpere in das noch immer von Kerzenschein erhellte Schlafzimmer. Simons Hälfte im Kleiderschrank – leer. Ich puste die Teelichter aus und verkrieche mich schutzsuchend unter der riesigen, zwei mal zwei Meter großen Bettdecke, versenke meine Nase in den Kissen. Ich atme tief ein und stelle mir vor, an Simons Haaren zu riechen. Ich kann seinen Duft deutlich wahrnehmen, diese Mischung aus Kräutershampoo, Emporio und Zahnpasta, vermischt mit dem Geruch seiner Haut. Unruhig werfe ich mich auf die andere Seite, umklammere das Kopfkissen mit beiden Händen, stutze und ziehe etwas von darunter hervor. Ich breite den Stofffetzen vor mir aus. Homer Simpson starrt mich an. Sein T-Shirt, Simon hat sein heiß geliebtes T-Shirt hiergelassen. Vielleicht ist noch nicht alles verloren. Ich schlüpfe hinein und fühle mich Simon plötzlich wieder nah. Es wird alles gut werden, ganz bestimmt. Wie ein Embryo rolle ich mich in unserem Bett zusammen und schließe die Augen.
     
    Ich befinde mich in einer großen Kirche. Der Altar ist mit festlichen Blumengestecken überladen, und ganz oben auf der Kanzel stehe ich in meinem schicksten Hosenanzug. Auf den harten, dunklen Bänken hockt der Vorstand der Vereinsbank, dem ich gerade die Abschlusspräsentation mit Hilfe eines riesigen Projektors vorlege. Ich spüre, wie mir der Schweiß die Schläfen herunterläuft. Jetzt bloß keinen Fehler machen. Ich habe so lange an dieser Präsentation gearbeitet.
    »Wir haben zunächst die derzeitige Situation in Ihrem Unternehmen aufgenommen und analysiert«, erkläre ich mit fester Stimme und drücke auf das kleine Knöpfchen, um die erste Folie meines Vortrages auf der rückwärtigen Wand der Kirche hinter dem Altar erscheinen zu lassen. Doch dort sieht man nur einen rechteckigen Fleck. Strahlend weiß. Immer hektischer klicke ich auf der Fernbedienung herum, doch der Fleck bleibt. Mein Herz wird schwer, die fragenden Gesichter unter mir verschwimmen zu einer undefinierbaren Masse. »Nun, wir haben die Ist-Lage analysiert und haben festgestellt, dass sie nicht ideal ist«, fasse ich kurz zusammen. »Alles muss anders werden! Jeder Angestellte muss zum Beispiel am ersten Dezember einen Adventskalender geschenkt bekommen«, fahre ich fort.
    »Und wer soll den basteln?« Ich werfe dem Störenfried einen vernichtenden Blick zu.
    »Nun, ich natürlich!«, antworte ich im Brustton der Überzeugung und wiederhole, lauter über die zu mir hoch schallenden Oh- und Ah-Rufe hinweg, »jawohl, ich werde jedem einzelnen Angestellten einen Weihnachtskalender basteln! Des Weiteren brauchen wir ausreichend freie Zeit für sexuelle Kontakte zwischen den Mitarbeitern, ein ausgeklügeltes, an den Zentralcomputer angeschlossenes Terminplaner-System, damit Namens-, Jahres- oder Geburtstage nicht mehr vergessen werden«, die letzten Sätze brülle ich fast von meiner Kanzel hinunter, denn über mir beginnt jetzt die massige Glocke im Kirchturm zu läuten. »Dingdong, dingdong.« Ihr Klang dröhnt mir in den Ohren, doch ich versuche, sie zu übertönen, indem ich schließlich beide Hände wie einen Trichter um meinen Mund lege und rufe: »Wir brauchen Zeit füreinander!« In diesem Moment beginnt der Boden unter mir zu vibrieren, während die Kirchenglocke weiter vor sich hin läutet. Verwirrt sehe ich mich um, meine Zuhörer
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