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Mit Blut signiert - Ein Caravaggio-Roman

Mit Blut signiert - Ein Caravaggio-Roman

Titel: Mit Blut signiert - Ein Caravaggio-Roman
Autoren: Matt Beynon Rees
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sanften Mund gesehen. Aber ein Bildnis Lenas hätte er doch niemals zurückgelassen. Seine Utensilien, die Präparate und Pigmente, die Pinsel und die Palette, die Spiegel, der Degen und die Rüstung und andere Requisiten, lagen im Keller verstreut.
    Sie langte zum anderen Fenster hinauf und drückte gegen den Laden. Sie rang nach Atem. Hatte er sie betrogen? Das Licht aus dem Fenster fiel nun auf eine andere Leinwand auf der ganz hinten stehenden Staffelei. Es war
David und Goliath
, das Bild, an dem sie ihn am Abend zuvor noch hatte arbeiten sehen. Sie griff sich mit der Hand an die Brust und schrie, als wäre jemand vor ihren Augen erschlagen worden. Der massige Kopf des biblischen Riesen trug die gequälten Züge des Malers. Aus Caravaggios durchschnittenem Hals strömte Blut. Seine Augen waren weit aufgerissen, und die Lippen waren wie zu einem letzten Wort geöffnet.
    Costanza sank zitternd vor der Leinwand auf die Knie. Sie hatte sich nicht geirrt. Auch die Gesichtszüge des Jungen waren die Caravaggios. Er hatte sein junges, unschuldiges Ich als den mitleidigen Henker des Erwachsenen, des Mörders, des Verurteilten gemalt. Sie starrte Goliaths Mund an, die heraushängende Zunge. Sie war sich ganz sicher: Der Riese sprach noch im Tod.
    Auf der Schwertklinge war etwas eingraviert. Sie sah genauer hin und entzifferte das Motto der Augustinermönche.
Humilitas occidit superbiam
. Demut tötet den Stolz. Bedeutete das, dass Arroganz Caravaggio zur Sünde verführt hatte? Musste er um den bösen Preis, beseitigt zu werden, wie Goliath sterben?
    Sie hörte eine Kutsche in den Hof fahren und einen Mann rufen. Auf der Kellertreppe erklangen Schritte. Der Inquisitor betrat den Raum, blinzelte in die Schatten. Costanza stützte sich gegen die Wand. Die Bewegung erregte die Aufmerksamkeit des Inquisitors. «Michele? In Gottes Namen, was tut Ihr? Warum seid Ihr nicht zum Hafen gekommen?»
    Sie brach in der Fensternische zusammen, und er erkannte sie. «Meine Dame, vergebt mir. Ich dachte, Ihr wäret –» Er sah die Leinwand, sah Goliaths Haupt. «Bei Christus.»
    «Was hat er getan?» Sie wusste, dass dieses Gemälde nichtdas Werk eines Mannes auf dem Weg in die Freiheit war. Es war, als huschte Micheles Geist im Augenblick seines Todes über die Leinwand.
    Der Inquisitor schüttelte den Kopf und verzog wütend die Lippen. Er trat gegen einen Haufen schmutziger Lappen. «Verdammt sei er, dass er mir das angetan hat.» Er schob sich das Barett auf den Hinterkopf zurück. «Ah, aber es ist das Beste, was er je gemalt hat.»
    Costanza eilte über die Treppe in den Hof und rief nach ihrer Kutsche. Wenn Caravaggio nicht zum Hafen gefahren war, hatte er vielleicht einen anderen Weg genommen, um dem Inquisitor zu entkommen. Sie würde ihm auf dem Landweg folgen und ihn dazu zwingen, die Gemälde mitzunehmen. Er brauchte sie, um seine Freiheit zu erlangen. Sie würde ihn retten.
    Ein Reiter kam durchs Tor und sprang von seinem Pferd ab. Um ihn zu sehen, ging Costanza um ihre Kutsche herum.
Ist das Michele?
    Der Reiter schaute sich um. Als er Costanza erblickte, lief er ihr über das Pflaster entgegen.
    Fabrizio zog seine Mutter an sich und lachte.
    Sie zitterte wie eine ohnmächtige, alte Frau. Er hielt ihren Schock für die Verwunderung über sein unerwartetes Auftauchen. «Die Ritter haben mich gestern nach Neapel gebracht. Sie hielten mich hier im Priorat fest. Und heute Morgen haben sie mich freigelassen. Ich bin begnadigt, Mutter, kannst du dir das vorstellen? Ich danke dir.»
    «Meine Seele, du bist hier.»
    «Es muss wohl dir zu verdanken sein. Danke, liebste Mutter.» Er küsste ihr die Wangen und den Hals. «Sie haben mich dir zuliebe laufen lassen.»
    Mir zuliebe
. Sie zitterte und schüttelte den Kopf. Ihr wurde schwarz vor Augen. Von der Leinwand im Keller glitt Micheles abgeschnittener Kopf aus der Dunkelheit auf sie zu. Seine Gesichtszügewaren vom Tod gezeichnet, und obwohl sie wortlos waren, sprachen sie zu ihr.
Michele hat einen Weg gefunden, sich selbst zu erlösen. Er ist zu den Rittern gegangen.
Sie hatte Fabrizio. Und diese Mörder hatten Michele.
    ∗
    Die Nadel stichelte durchs Sacktuch aus Kattun. Die Fischer auf dem kleinen Boot lachten boshaft und spuckten aus. «Pass auf, dass du ihn nicht mit der Nadel stichst», sagte einer von ihnen. «Willst ihm doch nicht wehtun.»
    Mit jedem Nadelstich nahm das durch die Sacköffnung fallende Sonnenlicht ab. Caravaggio sah, wie es zu einem einzigen, durch die
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