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Mischpoche

Titel: Mischpoche
Autoren: Gmeiner-Verlag
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sich Bronstein, bestärkt durch die Lektüre, erinnerte, ein Streik der Eisenbahner gewesen. Die Regierung wollte die Streikführer rechtswidrig sanktionieren – noch gab es ja die Koalitionsfreiheit in diesem Land, wie Bronstein als Vertreter der Exekutive wohl wusste –, die Opposition sah die Dinge naturgemäß gänzlich anders. Und anscheinend hatte die Regierung die Abstimmung am Vorabend verloren, was üblicherweise ihrem politischen Exitus gleichkam. Allerdings, so entnahm Bronstein dem Blatt, hatte sich der rote Hinterbänkler Scheibein vergriffen und irrtümlich einen Stimmzettel seines Banknachbarn eingeworfen, sodass es zwei Stimmen des Abgeordneten Abram, aber keinen des Abgeordneten Scheibein gab. Aus diesem Umstand schöpfte die todgeweihte Regierung neue Hoffnung, da sie die Abstimmung nur mit einer Stimme Mehrheit verloren hatte. Galt also Scheibeins Votum ob des falschen Stimmzettels als obsolet, dann herrschte Stimmengleichheit, dann war der Antrag abgelehnt, dann war die Regierung gerettet.
    Nun hatte aber der Parlamentspräsident, welcher der Opposition angehörte, der Abstimmung als rechtskonform den Sanktus erteilt, was die Regierungsmandatare in Wutgeheul ausbrechen ließ. Dadurch wiederum fühlte sich der Präsident beleidigt, weshalb er sein Amt niederlegte. Und da es ihm im Zuge der Debatte seine zwei Stellvertreter gleichgetan hatten, war der Hort der österreichischen Demokratie mit einem Mal führerlos. ›Es ist nun Sache der maßgebenden Parteiführer und des Verfassungsdienstes, die Lösung der schwierigen Frage, was nun zu geschehen habe, zu finden‹, schloss der Artikel.
    »Na, a scho wos«, kommentierte Bronstein, »ein weiterer Sturm im Wasserglas! Dass sich diese Wastln andauernd so wichtig nehmen.«
    »Na ja, David, unterschätzen tät’ ich das nicht«, bemerkte Cerny, ohne von seinem Akt aufzublicken.
    »Ah, ned? Na, was soll schon sein? Im schlimmsten Fall hamma Neuwahlen! Und?«
    »Nein, David«, und jetzt legte Cerny seinen Stift weg, um sodann seinem Vorgesetzten direkt in die Augen zu sehen, »im schlimmsten Fall haben wir kein Parlament mehr. Wie seinerzeit in der Monarchie.«
    »Ach was«, schnalzte Bronstein mit der Zunge und legte die Zeitung nieder. »Lass dir das von einem alten Hasen erklären, der schon die Zeit des Kurienwahlrechts miterlebt hat. Das ist alles nur Schauspiel! Die machen das absichtlich so dramatisch, damit dann alle nach der gütlichen Regelung der jeweiligen Angelegenheit sagen: ›Na, Gott sei Dank!‹ Als wäre Gott für die jeweilige Regierung und den Unsinn, denn sie anstellt, verantwortlich – oder auch nur für die überaus begrenzte Weisheit der Mandatare.«
    »Na, ich weiß nicht …«
    »Aber ich weiß. Als anno 97 die fünfte Kurie eingeführt wurde, haben die Politiker geschrien: ›Jetzt geht die Welt unter!‹ Und was ist passiert? Nix. Als zehn Jahre später das allgemeine Männerwahlrecht umgesetzt wurde, haargenau dasselbe. Na, und vor 14 Jahren das Frauenwahlrecht? Wieder: Weltuntergang und dann gar nix. Also glaub’ mir: so ein Parlamentskriserl ist nix als Theaterdonner.«
    »Aber wenn man nach Deutschland …«
    »Papperlapapp! Deutschland! Die Germanen sind ja ganz anders als wir. Das kannst gar nicht vergleichen. Die machen alles, was sie machen, mit deutscher Gründlichkeit. Entweder sie haben ein Parlament, dann regiert auch nur das. Oder sie haben keins, dann fackeln sie’s gleich ab. Bei uns ist immer alles lauwarm, bei uns heißt’s nicht ›entweder- oder‹, sondern immer ›sowohl als auch‹ oder zumindest ›wenn schon, dann aber‹. Die Deutschen, die haben dieses Marschall-Vorwärts-Denken. Bei uns geht immer alles schön gemütlich. Wirst sehen: gar nix wird passieren. Die setzen sich morgen z’samm, und am Abend werden s’ wieder verkünden, dass gestern eigentlich gar nix passiert ist. Würd’ mich nicht wundern, wenn das sogar der Renner selber sagt, und das nur, damit er wieder Präsident sein darf. Krise! Ha, wenn ich das Wort Krise nur hör’, dann krieg ICH die Krise. Dass ich ned lach’!«
    »Du, ich weiß, wir sind Beamte und haben als solche quasi per definitionem unpolitisch zu sein, aber ich sag’ dir, der Dollfuß, der ist ein unguter Patron. Der wird nach Italien und, wer weiß, nach dem heutigen Wahltag in Deutschland auch dorthin schauen, und dann wird er sich sagen, was brauch’ ich ein Parlament. Da haben s’ einen Führer, dort haben s’ einen Führer, also bin ich ab sofort
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