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MERS

MERS

Titel: MERS
Autoren: D.G. Compton
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dekoratives Fries draußen vor dem
Küchenfenster, den rechteckigen hölzernen Fensternischen im
Wohnzimmer oben und dem Elternschlafzimmer darüber. Ihr Blick
ruhte auf dem Hafen, und dessen Abbild würde in späteren
Jahren ihre Kindheitserinnerungen dominieren. Blau wie der Himmel war
er im Sommer, zugefroren im Winter des nördlichen Ozeans, aber
ihre Gedanken waren an diesem Septembermorgen auf rosafarbene
Nylon-Haarbänder gerichtet. Mama sagte, sie seien
gewöhnlich und altmodisch, aber das war nicht fair. Ihre beste
Freundin Karla Beck trug sie, und Karla war überhaupt nicht
gewöhnlich oder altmodisch.
    »… Sie haben diesen Mann gekreuzigt, liebe
Freundinnen und Kameradinnen. Andere Männer, in der
Minderwertigkeit ihrer männlichen Natur, haben Jesus, den Herrn,
gekreuzigt. Der, wie sie, ein zerbrechliches, männliches Schiff
gewesen ist…«
    Harriets Mutter, die an das Abwaschbecken gelehnt stand und einen
längst trockenen Teller abtrocknete, war zu der Erkenntnis
gekommen, daß sie an ihre Familie verschwendet war. Blond, mit
blitzenden, dramatischen Zügen, hätte sie
Berufsschauspielerin sein sollen. Sie war an der staatlichen
Schauspielschule angenommen worden, dann jedoch in den Ferien hierher
gekommen und hatte Harriets Vater am Town Quay getroffen. Johan
Ryder, ein Hiesiger, studierte oben an der Universität und
erledigte einen Ferienjob in einem eng anliegenden Fischerpullover;
er verkaufte Fahrkarten für Hafenrundfahrten. Keiner von beiden
hatte an Kondome geglaubt: wenn man der Person, mit der man Sex
hatte, nicht vertrauen konnte, wem dann? Jetzt war Johan
Labortechniker oben in den Brandt-Laboratorien. Und Bess? Bess Ryder
arbeitete halbtags in der Ritz-Videobibliothek, die sich an der Front
Street entlangzog – sie nannte sie das ›Haus der
Illusionen‹ –, rauchte schwarze, rassische Zigaretten,
studierte an drei Abenden pro Woche Ibsen mit den städtischen
Schauspielern ein, und ihr neugefundener Glaube an Gott die Mutter
half ihr dabei, einer schwierigen Welt einen Sinn abzugewinnen.
    »… Wie sie, liebe Freundinnen, der Sohn einer
Mutter. Und dennoch – dennoch kraftvoll, welterschütternd,
nicht wie alle anderen. Denn die Mutter Christi auf Erden war
unberührt. Maria, die Vertreterin von Gott der Mutter auf Erden,
war eine Jungfrau. Damit wir uns nicht falsch verstehen: darin, meine
lieben Freundinnen und Kameradinnen, stimmen die Heiligen Schriften
überein…«
    Daniel, mit seinen zehn Jahren, war die größte der
Schwierigkeiten seiner Mutter. Bis vor kurzem hatte er sich deswegen
Sorgen gemacht, ohne zu wissen, weshalb. Jetzt, nach Mr. Barendts
Ansprache zu Beginn des Schuljahres, war es ihm gleichgültig. Er
saß neben seiner Schwester, die Ellbogen auf den Tisch
gestützt, und blickte funkelnd sein Müsli an. Das Leben war
schon eine Sauerei. Er hatte sich einen großen Nachschlag
genommen, und jetzt war er pappsatt und konnte nicht mehr, und wenn diese Frau da das sah, wäre sie stocksauer, und
natürlich würde sie’s sehen, und sie würde von
schlimmer Verschwendung schwafeln, die Dinge klar durchschauen, wie
sie es nannte, und er wünschte, er wäre tot. Seine einzige
Hoffnung bestand darin, daß er, wenn sie so wie an manchen
Morgen war, nämlich bis zur völligen Geistesabwesenheit
angetörnt von Gott der verfluchten Mutter, heimlich seine
Schüssel mit Harriets Schüssel vertauschen konnte. Für
seine Schwester hätte das keinerlei Konsequenzen: sie käme
mit Mord ungestraft davon.
    »Wir müssen bald los, Sprößling. Hast du dein
Müsli aufgegessen, Daniel?«
    Er schloß die Augen. Er konnte es nicht ertragen. Sie sah
doch, verdammt noch mal, sehr gut, daß er nicht aufgegessen
hatte.
    »Du hast nicht aufgegessen. Du hast nicht aufgegessen,
Daniel, nicht wahr?«
    Andere Leute nannten ihn Danno, sie jedoch niemals. Sie
wußte genau, daß er keine Antwort gäbe, wenn sie es
täte.
    »Du weißt, das ist schlimme Verschwendung, Lieber.
Iß jetzt auf! Wenn du es nicht haben wolltest, hättest du
es nicht nehmen sollen.«
    Er öffnete die Augen. Nichts war anders geworden. Die
Küche war noch immer dieselbe. Seine Schüssel war noch
immer fast voll. Er war nicht dumm – nichts änderte sich
jemals wirklich, das würde er niemals glauben.
    »O Daniel, Daniel, was sollen wir mit dir bloß
anfangen! Was, zum Teufel, sollen wir mit dir bloß
anfangen?«
    Harriet trommelte mit den Füßen gegen die Tischbeine,
weil sie den nahenden Krach verabscheute. Memphis entfloh
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