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Meistererzählungen

Meistererzählungen

Titel: Meistererzählungen
Autoren: Hermann Hesse
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rann ein vollgeregneter Graben über und sandte einen schmalen trüben Bach über die Straße, auf dem schwammen alte Birnenblätter und braune Holzstückchen, und jedes von ihnen war ein Schiff , jagte da hin und strandete, erlebte Lust und Pein und wechselnde Schicksale, und ich erlebte sie mit.
    Es hing unversehens vor meinen Augen ein dunkler Vogel in der Luft, überschlug sich und fl atterte taumelnd, stieß plötzlich einen langen schallenden Triller aus und stob ver glitzernd in die Höhen, und mein Herz fl og staunend mit.
    Ein leerer Lastwagen mit einem ledigen Beipferd kam ge fahren, knarrte und rollte fort und fesselte noch bis zur nächsten Krumme meinen Blick, mit seinen starken Rossen aus einer unbekannten Welt gekommen und in sie verschwin dend, fl üchtige schöne Ahnungen aufregend und mit sich nehmend.
    Das ist eine kleine Erinnerung oder zwei und drei; aber wer will die Erlebnisse, Erregungen und Freuden zählen, 34
    die ein Kind zwischen einem Stundenschlag und dem andern an Steinen, Pfl anzen, Vögeln, Lüften, Farben und Schatten fi n det und sogleich wieder vergißt und doch mit hinübernimmt in die Schicksale und Veränderun-gen der Jahre? Eine beson dere Färbung der Luft am Horizont, ein winziges Geräusch in Haus oder Garten oder Wald, der Anblick eines Schmet terlings oder irgendein fl üchtig herwehender Geruch rührt oft für Augenblicke ganze Wolken von Erinnerungen an jene frühen Zeiten in mir auf. Sie sind nicht klar und einzeln er kennbar, aber sie tragen alle denselben köstlichen Duft von damals, da zwischen mir und jedem Stein und Vogel und Bach ein inniges Leben und Verbundensein vorhanden war, dessen Reste ich eifersüchtig zu bewahren bemüht bin.
    Mein Blumenstock richtete sich indessen auf, reckte die Blätter höher und erstarkte zusehends. Mit ihm wuchs meine Freude und mein Glaube an die Genesung meines Kamera den. Es kam auch der Tag, an welchem zwischen den feisten Blättern eine runde rötliche Blü-
    tenknospe sich zu dehnen und aufzurichten begann, und der Tag, an dem die Knospe sich spaltete und ein heimliches Gekräusel schönroter Blü
    tenblätter mit
    weißlichen Rändern sehen ließ. Den Tag aber, an dem ich den Topf mit Stolz und freudiger Behutsamkeit ins Nachbarhaus hinübertrug und dem Brosi übergab, habe ich völlig vergessen.
    Dann war einmal ein heller Sonnentag; aus dem
    dunklen Ackerboden stachen schon feine grüne Spit-35
    zen, die Wolken hatten Goldränder, und in den feuchten Straßen, Hofräu men und Vorplätzen spiegelte ein sanfter reiner Himmel. Das Bettlein des Brosi war näher zum Fenster gestellt wor den, auf dessen Simsen die rote Hyazinthe in der Sonne prunkte; den Kranken hatte man ein wenig aufgerichtet und mit Kissen gestützt. Er sprach etwas mehr als sonst mit mir, über seinen ge-schorenen blonden Kopf lief das warme Licht fröhlich und glänzend und schien rot durch seine Ohren. Ich war sehr guter Dinge und sah wohl, daß es nun schnell voll ends gut mit ihm werden würde. Seine Mutter saß dabei, und als es ihr genug schien, schenkte sie mir eine gelbe Winter birne und schickte mich heim. Noch auf der Stiege biß ich die Birne an, sie war weich und honigsüß, und der Saft tropfte mir aufs Kinn und über die Hand. Den abgenagten Butzen warf ich unterwegs in hohem Bogen feldüber.
    Tags darauf regnete es, was heruntermochte, ich muß te daheimbleiben und durfte mit sauber gewasche-nen Händen in der Bilderbibel schwelgen, wo ich schon viele Lieblinge hatte, am liebsten aber waren mir doch der Paradieslöwe, die Kamele der Elieser und das Mo-sesknäblein im Schilf. Als es aber am zweiten Tage in einem Strich fortregnete, wurde ich verdrießlich. Den halben Vormittag starrte ich durchs Fen ster auf den plätschernden Hof und Kastanienbaum, dann kamen der Reihe nach alle meine Spiele dran, und als sie fer tig waren und es gegen Abend ging, bekam ich noch Streit 36
    mit meinem Bruder. Das alte Lied: wir reizten einander, bis der Kleine mir ein arges Schimpfwort sagte, da schlug ich ihn, und er fl oh heulend durch Stube, Öhrn, Küche, Stiege und Kammer bis zur Mutter, der er sich in den Schoß warf, und die mich seufzend wegschickte.
    Bis der Vater heimkam, sich alles erzählen ließ, mich abstrafte und mit den nötigen Ermahnungen ins Bett steckte, wo ich mir namenlos un glücklich vorkam, aber bald unter noch rinnenden Tränen einschlief.
    Als ich wieder, vermutlich am folgenden Morgen, in des Brosi Krankenstube stand, hatte seine
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