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Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)

Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)

Titel: Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)
Autoren: Christopher Kloeble
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eine
ausgezeichnete
Idee,
alle
Jungs sollten den Versuch wagen, sich den Hals zu brechen. Fünfzig Vaterunser brachten Rupert dem Verständnis von Ironie deutlich näher. Man konnte meinen, alles, was Schwester Alfonsa von sich gab, sei emotionslos. Aber Albert spürte schon als Kind, das war nur die halbe Wahrheit. Manchmal kam es ihm vor, als hätte sie sich nach Sankt Helena verirrt. Etwas an ihr passte nicht dorthin. Was das genau war, konnte er nicht sagen. Aber er hatte eine Ahnung, dass es damit zu tun hatte, wie selten sie die Gebäude verließ und wie oft sie Frank Sinatra hörte.
    »Ist Fred verrückt?«
    Diesmal betonte Albert seine Frage so, als erwartete er ein Ja. Schwester Alfonsa schloss die Tür zu ihrem Büro und führte ihn zu einem Tischchen, auf dem ein Schachbrett aus gebeiztem Buchsbaum wartete. Links und rechts davon standen Holzhocker. Seit Kurzem brachte sie ihm Schachspielen bei   – eine Ehre, die sie bloß alle paar Jahre einem Waisenkind zuteilwerden ließ, das ihrer Meinung nach das größte Potentialmitbrachte oder, wie sie es formulierte, »helle genug« schien. Auf Schachfiguren wurde in Alfonsas Unterricht verzichtet. Einem klugen Kopf mussten ihrer Ansicht nach Dame-Spielsteine ausreichen, den Rest erledigte das Gedächtnis.
    Albert zögerte, er hatte wenig Lust zu spielen, spürte aber, dass ihm keine andere Wahl blieb, wenn er ihre Meinung hören wollte. Durch ein winziges Fenster fiel mattes Tageslicht, es war einer dieser trüben Herbsttage. Albert nahm Platz. Seine Füße berührten den Boden nicht. Für einen Moment schwebte seine Hand über seiner knochenweißen Truppe, bevor er die Partie auf klassische Weise eröffnete (Bauer auf e4). Die Ordensschwester spiegelte seinen Zug (Bauer auf e5) und setzte sich dann.
    »Du denkst, dein Vater ist verrückt?«
    »Ja.«
    »Vielleicht sind wir das auch.«
    »Gar nicht.«
    »Woher willst du das wissen?«
    Albert machte seinen nächsten Zug (Springer auf f3), den sie wiederum nachahmte (Springer auf f6).
    »Na gut«, sagte sie, »gehen wir davon aus, dass wir nicht verrückt sind und Fred schon. Ist das dann nicht bloß unsere These?«
    Albert runzelte die Stirn (Springer schlägt Bauer), Schwester Alfonsa runzelte nicht (dasselbe).
    »Was ist eine These?«
    »Ein Anfang.« Sie schmunzelte. »In unserer Gesellschaft bestimmen die Stärkeren über die Schwächeren. Ein cleveres Kerlchen wie du legt fest: Fred ist verrückt. Und da Fred kaum in der Lage ist, das zu widerlegen, folgert man, du hast recht.«
    »Ich
hab
recht.« (Bauer d3)
    »Also schuldig, bis Unschuld bewiesen ist.« (Bauer d6) »Und wenn wir falsch liegen?«
    »…«
    (Bauer schlägt Springer, das Gleiche noch mal.)
    »Was, wenn wir verrückt sind? Was, wenn die ganze Welt von Verrückten beherrscht wird, die jeden Gesunden wie Fred wegsperren, damit man ihnen nicht auf die Schliche kommt?«
    »Das geht nicht.«
    »Sagt wer?«
    »Ich.«
    »Alle Kinder sind verrückt.«
    »Warum?«
    »Das habe ich als die Stärkere von uns beiden soeben festgelegt.«
    »Ich bin nicht verrückt!«
    »Jetzt schon.«
    Albert knallte den Spielstein neben das Schachbrett. »Ich mag nicht mehr!«
    »War doch nur ein Beispiel.« Sie wuschelte ihm durchs Haar. »Willst du ehrlich wissen, was ich denke?«
    Er nickte und schielte sie von unten an, um auszudrücken, dass er in den Arm genommen werden wollte.
    »Ihr beide seid vollkommen verrückt.«
    Keine Doppeldeutigkeit intendiert. Albert mochte weniger als die Hälfte von dem verstehen, was sie von sich gab, auch sein Talent hatte Grenzen, aber sein Gefühl verriet ihm, diesmal sprach sie mit Bewunderung. Sie sprach von vollkommener Verrücktheit.
    »Das ist gut«, sagte er und schickte sicherheitshalber noch ein »Oder?« hinterher.
    »Das ist besonders«, sagte sie, »und der Grund dafür, dassdu ihn nur Fred nennen kannst. Ein richtiger Vater wird er nie sein.«
    »Ich kann’s ihm erklären!«
    Schwester Alfonsas Schmunzeln: »Das kann niemand. Nicht einmal du.«
    Eine Woche später riss Albert zum ersten Mal aus. Im Monat darauf türmte er gleich vier Mal. Danach wiederholten sich seine Fluchtversuche mit verlässlicher Regelmäßigkeit. Im Durchschnitt kam er auf zwanzig pro Jahr. Anfangs scheiterte er an den Busfahrern, die keinen Knirps, besonders keinen neunmalklugen, ohne die Begleitung eines Erwachsenen mitnehmen wollten. Des Öfteren verpfiffen ihn andere Waisenknaben. Doch selbst wenn ihm die Flucht gelang, ließen sich die
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