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Meine letzte Stunde

Meine letzte Stunde

Titel: Meine letzte Stunde
Autoren: Andreas Salcher
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unangenehm sind, um sie überhaupt zulassen zu können. Viele von uns haben nie die Sprache gelernt, um die damit verbundenen Gefühle in Worte zu fassen. Genau diese Gedanken und Gefühle von einem unbekannten Wesen zu einem guten Freund zu machen, ist eine Aufgabe dieses Buches.
    In lebensbedrohenden Situationen, wo alle Worte nicht mehr reichen, wo jedes Wort zu viel ist, können Gedichte Kraft und Hoffnung geben. Es ist unvorstellbar, unter welchen Bedingungen Gedichte entstehen können. In einer Atmosphäre von Hunger und Kälte, von Brutalität und Angst entstanden die Gedichte des Dichters György Faludy in den Gefängnissen der stalinistischen Unterdrückung im Ungarn der Nachkriegszeit. Er versuchte damit, seiner im Grunde unerträglichen Existenz und der seiner Mitgefangenen Sinn zu geben. Da es weder Papier noch Bleistift gab, lernte er seine Gedichte auswendig. Um sie im Falle seines Todes für seine Frau und die Nachwelt zu erhalten, ersuchte er seine Mitgefangenen, diese ebenfalls auswendig zu lernen. Eine besonders lange Elegie, die der Liebe seiner Frau gewidmet war, verteilte er auf mehrere Mithäftlinge, von denen jeder eine Strophe lernte. So konnten Gefangene, die vor ihm entlassen wurden, seine Frau besuchen und vor ihr jenen Teil des Gedichtes rezitieren, den sie gelernt hatten. Am Schluss pflegten sie zu sagen: „Das ist alles, was ich auswendig gelernt habe. Aber in ein paar Tagen wird Jim Egri entlassen; er wird Dir die nächsten 20 Verse aufsagen.“ [6]
    Gedichte können helfen, die Sprachlosigkeit in uns selbst zu überwinden und Gefühle in Bilder zu fassen, die wir sonst gar nicht auszudrücken vermögen. Wenn man es selbst spricht, kann ein Gedicht die Grenzen zwischen dem Wort und der Musik überschreiten. Das kurze Gedicht von Erich Kästner, der seine „zwei Gebote“ zum Thema „Memento mori“ formuliert, kann ein schöner Einstieg sein:
     
    Liebe das Leben, und denk an den Tod!
Tritt, wenn die Stunde da ist, stolz beiseite.
Einmal leben zu müssen,
heißt unser erstes Gebot.
Nur einmal leben zu dürfen,
lautet das zweite. [7]
     
    Die letzte Stunde ist kein geheimer Schlüssel, mit dem man den schon gefahrenen Kilometerstand heimlich zurückdrehen kann, aber das beste Navigationsinstrument, das uns hilft, die Ziele, die wir in unserer Zukunft ansteuern, ohne zu große Umwege zu erreichen. Oft treten wir dann besonders fest auf das Gaspedal, wenn wir unser Ziel völlig aus den Augen verloren haben. Gerade wenn wir uns hoffnungslos verirrt haben, kann uns der Gedanke an unsere letzte Stunde helfen, wieder zurück zum rechten Weg zu finden. Sie mahnt uns auch, überhaupt einmal ein Ziel in das Navigationssystem unseres Lebens einzugeben und nicht völlig planlos umherzukurven. Sie zeigt auch zuverlässig an, wenn unser Verbrauch an Lebensenergie zu hoch ist oder wenn wir zu lange im Stillstand verharrt sind. Sie hilft uns dabei, herauszufinden, warum wir eigentlich da sind. Daher sollten wir uns den Besuch der letzten Stunde manchmal erlauben. Der Gedanke an die letzte Stunde schließt das Leben nicht ab, er macht das Leben auf. – Mache Dir die letzte Stunde zum Freund.
[1]
Das Gespräch mit Rüdiger Templin fand am 23. April 2010 statt.
[2]
Alle Zitate von Richard Leider in diesem Buch, die nicht mit einer Quellenangabe aus seinen eigenen Büchern versehen sind, stammen aus einem mehrstündigen Interview, das ich am 13. November 2009 in Minneapolis mit ihm geführt habe.
[3]
Christoph Schlingensief: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung, Köln 2009, S. 157 f.
[4]
Ebd., S. 175 f.
[5]
Ebd., S. 249 f.
[6]
Diese Geschichte hat mir Mihaly Csikszentmihalyi bei einem Interview am 4. Oktober 2008 in Claremont erzählt.
[7]
Erich Kästner: Die zwei Gebote, aus: Kurz und bündig, © Atrium Verlag, Zürich 1948 und Thomas Kästner.

Unendliche Gerechtigkeit – warum wir in der letzten Stunde alle gleich sind
    In der letzten Stunde sind wir alle gleich. Die Sünder und die Heiligen, die Schönen und die Hässlichen, die Klugen und die Dummen, die kleinen und die großen Leute. Die letzte Stunde trennt nicht in Economy- und First-Class-Passagiere. Um die letzten Stunden können sich auch die Reichen keinen Bypass legen lassen. Man kann sie künstlich aufschieben, aber man kann sie nicht umgehen. Die letzte Stunde bietet den vielen einfachen Menschen die Gelegenheit, zu ganz Großen zu werden, und verdammt viele einstmals Mächtige zur
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