Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Malory

Malory

Titel: Malory
Autoren: 06. Stuermische Begegnung
Vom Netzwerk:
forderte er sie auf.
    »Freinehmen? Sei nicht albern.«
    »Wir werden schon einen Tag ohne dich zurechtkommen, mein Schatz.«
    »Wie denn?«
    »Molly!« Seine Stimme hatte einen leicht drohenden Unterton.
    »Ist ja gut. Ich werde es lesen«, gab sie versöhnlich zu-rück. »Obwohl das meiner Meinung nach noch ein wenig warten könnte. Schließlich haben wir eine Menge Gäste. Aber ich gebe zu, ich bin neugierig, schließlich war dieses Paket jahrelang im Haus, und ich wußte nicht einmal, was darin war.«
    Er blickte sie verwundert an. »Jahrelang? Wann hast du es entdeckt und wo?«
    »Nun ja, ich habe es entdeckt und auch wieder nicht.
    Das heißt, ich habe es als Kind bekommen, als ich vier oder fünf Jahre alt war – so genau weiß ich das nicht mehr. Mir wurde gesagt, was damit zu geschehen habe und wann ich es weitergeben solle, aber nicht, was es enthielt. Ich muß gestehen, alles ist schon so lange her, Jason, daß ich es beinahe vergessen hätte. Es hatte sich all die Jahre über auf deinem Speicher befunden, mit den alten Sachen aus meiner Kindheit, die ich dort oben verstaut hatte.«
    »Aber schließlich fiel es dir dann doch wieder ein?«
    »Ja und nein. Ich habe es auf ganz merkwürdige Weise wiedergefunden«, berichtete sie.
    »Mach es nicht so spannend. Erzähl!«
    Sie rieb ihre Schläfe mit den Händen, um sich besser erinnern zu können. »Alles begann damit, daß ich den Weihnachtsschmuck vom Speicher holen wollte. Es war heiß und stickig. Die Sonne hatte den Dachboden ordentlich aufgeheizt, und man hatte den Eindruck, daß die Luft stand. Ich wollte ein Fenster aufmachen, um ein bißchen kühle Luft hereinzulassen. Also öffnete ich es und war, voll bepackt mit Weihnachtsschmuck, schon wieder auf dem Weg zur Tür, als plötzlich ein heftiger Windstoß durch den Speicher fegte und Kisten und Körbe durcheinanderwirbelte.«
    »Du hast wahrscheinlich die Tür offen gelassen, so daß ein Durchzug entstand.«
    »Das war keine Zugluft, Jason. Es war ein Sturmwind, wie vor einem Unwetter. Vorher hatte auf dem Dachboden kein Lüftchen geweht. Der Windstoß kam aus dem Nichts. Ich hatte ja noch nicht einmal die Tür ge-
    öffnet. Es konnte also kein Durchzug entstanden sein.
    Das fiel mir allerdings erst später auf. Im Augenblick gab es anderes zu tun. Ich räumte erst einmal die Sachen auf, die verstreut auf dem Boden lagen. Dabei gelangte ich auch zu dem orientalischen Paravent, der auf einen Stapel Bilder gefallen war und sie aus dem Rahmen gelöst hatte. Dann stieß ich auf die Truhe mit meinen alten Sachen. Ich erinnerte mich immer noch nicht an das Paket und hätte die Truhe wohl nie geöffnet, wenn nicht, tja, wenn nicht ...«
    Die Falten auf Mollys Stirn wurden tiefer. Er hätte sie beinahe geschüttelt, damit sie weiterredete.
    »Und?« fragte er ungeduldig.
    »Wenn nicht der Wind noch ein zweites Mal wie von Geisterhand an der Truhe gerüttelt hätte ... Mir war, als wolle er mein Augenmerk darauf richten, ich schwöre es, als wolle er die Truhe für mich öffnen. So etwas Un-heimliches habe ich noch nie erlebt. Daß ich am ganzen Leib zitterte und eine Gänsehaut bekam, brauche ich dir wohl nicht zu sagen. Und just in diesem Augenblick fiel mir das alte, in Leder gewickelte Paket ein, das ich, lange bevor ich in Haverston meine Stelle antrat, in der Truhe verstaut hatte – und das ich deiner Familie als Geschenk übergeben sollte. Und was noch seltsamer war, kaum hatte ich die Truhe geöffnet, verschwand der Wind so schnell wie er gekommen war.«
    Er mußte unvermittelt lachen. »Ich kann mir genau vorstellen, was Amy gesagt hätte, wenn sie dabeigewe-sen wäre. Sie würde felsenfest behaupten, der Geist meiner Großmutter hätte dafür gesorgt, daß das Tagebuch entdeckt und weitergegeben wurde. Du lieber Himmel, erzähle ihr ja nichts von dieser Begebenheit, Molly. Sie glaubt dann tatsächlich, in diesem alten Ge-mäuer spuke es!«
    »Unsinn. Es war nur ein Windstoß, der durch die Hit-ze unter dem Dach entstanden ist.«
    »Ja, sicherlich, doch meine Nichte hat eine rege Phantasie. Wir wollen also diesen Teil deiner Entdeckung für uns behalten, einverstanden?« schlug er mit einem Lächeln vor.
    »Wenn du darauf bestehst.«
    »Und jetzt erzähle mir, wer dir damals das Buch gegeben hat. Du bist nicht alt genug, um meine Großmutter gekannt zu haben.«
    »Richtig. Aber meine Großmutter war alt genug. Als ich die Truhe öffnete, erinnerte ich mich wieder an damals. Sie gab mir das Paket, und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher