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Malefizkrott

Malefizkrott

Titel: Malefizkrott
Autoren: Christine Lehmann
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Leichen, zu viele Morde!«
    Schon die beiden Schlüsselworte machten ihn schaudern. Er war noch empfindlicher geworden seit der Sache mit der toten Familienrichterin und dem Findelbaby, das er nach fünf Tagen Vaterglück seiner biologischen Mut ter hatte zurückgeben wollen und müssen. {1} Seitdem arbeitete er bis zum Wachkoma und verbrachte seine Freizeit entweder auf dem Tennisplatz, im Fitnessstudio, in Balingen bei seiner Mutter oder an seinem Bechsteinstutzflügel. Und er hatte seinen Urlaub verfallen lassen.
    »Ob Durs Ursprung das überlebt, weiß ich nicht«, sinnierte Richard und blies den Rauch in den gerade mal trockenen Regenhimmel über den Häusern der schmalen Gasse. »Stuttgart würde was verlieren. Zu seinen Lesun gen sind alle gekommen, die Philosophen der Frankfurter Schu le: Marcuse, Habermas … Die Großen aus der Gruppe 47. Sogar Böll war hier, in Ursprungs Keller. Peter Handke, der hat hier die Gruppe 47 beschimpft: dumme und läppi sche Prosa. Und Martin Walser hat von einem imperialistischen Monopol zur Einschüchterung von Kritikern, Le sern und Öffentlichkeit gesprochen.«
    Das war vor meiner vernunftbegabten Zeit gewesen. »Wieso Einschüchterung?«
    »Das ist wie heute. Wenn unser Fernsehkritiker Heinrich Weinrich alle Vierteljahr einen Autor einlädt und drei weitere Bücher in die Kamera hält, dann haben eben nur zwölf im Jahr das große Los gezogen.«
    »Aber Einschüchterung?«
    »Wen er abkanzelt, der ist für den Rest seines Lebens gezeichnet und schreibt nur noch, um sich an Weinrich zu rächen.« Richard wandte sich zum Schaufenster um. »Durs Ursprungs Laden war immer anders. Hier stehen Bücher, die niemand lobt oder kritisiert. Hier steht alles!«
    Deshalb mag ich keine Buchhandlungen. Es sind mir zu viele Bücher. Sie schreien nach Respekt, jedes einzel ne für sich. Und nicht nur die alten, über die man reden können sollte. Sie alle wollen Erfolg von mir und beschimpfen mich, weil ich sie nicht kaufe. Manche werden frech, springen mich an. Nimm mich, verschenk mich! Tod in Degerloch, Tod im Trollinger, Tod am Hölderlinplatz … Brrr! In Krimis sind Frauen immer entweder blondes Gift oder vergiften andere oder beides.
    »Und in dieser Fensterecke«, fuhr Richard fort, »hingen früher die Schriftsätze vom Gericht, wenn Durs Ursprung mal wieder einen Spendenaufruf für eine Zahnbehandlung von RAF-Terroristen unterschieben hatte oder dergleichen.«
    »Jaha, das waren noch Zeiten!«, seufzte ich mit fal scher Inbrunst.
    Richard löschte die Kippe im Aschenbecher auf dem Tisch neben der Tür, als ich mir gerade selbst eine anzünden wollte, »Buchhändler wie Durs sind eine aussterbende Art.«
    Ich steckte meine Schachtel wieder weg. Die Tür streifte ein Glöckchen. Der Laden war eng. Und das lag an den Büchern. Es waren zu viele. Sie füllten nicht nur die Regale, sie stapelten sich auch auf dem Boden. In wankenden Türmen. Im vorderen Bereich lagen auf einem Tisch ein paar Zugeständnisse an den Mainstream, die neuesten Mankells, Suters, Browns und Schätzings und ein paar Gartenbücher. Der hintere Teil war staubgewordene Literaturgeschichte, durch die sich schmale Pfade schlängelten. Sogar auf den Stufen einer Treppe, die in den Keller führte, türmten sich die Schwarten.
    Am Kassentresen stand ein kleiner Mann in grünem Hemd mit gesundem Bäuchlein, Glatze und an die sieb zig Jahren im Gesicht, auf dem ein amüsiertes Lächeln lag.
    »’n Abend«, murmelte Richard. Der breitbrüstige Staatsanwalt wirkte verblüffend schüchtern. Während sein Blick über die Bücherregale und Stapel glitt, ruhten die blauen Augen des Buchhändlers auf mir. Und er dachte gar nicht daran, daraus ein Hehl zu machen.
    So ist es recht!, dachte ich. Schau du nur! So was wie mich gab’s früher nicht. Ich bin queer, original Falsch geld, transgender und polyamant. Falls du weißt, was das ist.
    Durs lächelte. Womöglich dachte er, ich hätte mich in der Tür geirrt. Die Homo-Buchhandlung Erlkönig befand sich eine Kopfsteingasse weiter, in der Nesenbachstraße. In den Anfängen meiner Stuttgarter Zeit, als ich im Auftrag der einen oder anderen Kollegin des Lesbenmagazins Amazone Bücher zu klauen pflegte – auch mal einen Bildband mit nackten Kerlen –, hatte sich der Erlkönig noch ganz woanders befunden. In Stuttgart wanderten die Läden. Die kleinen an den Rand, die großen ins Zentrum.
    »Ist das dichtende Kind schon da?«, erkundigte ich mich. Ich hatte das unwiderstehliche
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