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Malefizkrott

Malefizkrott

Titel: Malefizkrott
Autoren: Christine Lehmann
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Buch vor uns stand und darauf wartete vorzulesen. Doch was er uns präsentierte, war unerwartet anders als das »mogte« Thalheims.
    »›Mit einem neuen Gag in der vielseitigen Geschichte amerikanischer Werbemethoden wurde jetzt in Brüssel eine amerikanische Woche eröffnet: Ein ungewöhnliches Schauspiel bot sich am Montag den Einwohnern der belgischen Metropole: Ein brennendes Kaufhaus mit brennenden Menschen vermittelte zum ersten Mal in einer europäischen Großstadt jenes knisternde Vietnamgefühl, dabei zu sein und mitzubrennen, das wir in Berlin bislang noch missen müssen …‹« Richard blickte uns über die Lesebrille hinweg an. »Eine Anspielung auf den Brand im Brüsseler Kaufhaus A l’innovation im Mai 1967. Dabei kamen 322 Menschen ums Leben. Vietnamkriegsgegner hatten Böller hochgehen lassen.«
    »Übel!«, bemerkte ich.
    Durs nickte erinnerungsschwer.
    »Und hier heißt es«, fuhr Richard fort: ›»Sosehr wir den Schmerz der Hinterbliebenen in Brüssel mitempfinden: Wir, die wir dem Neuen aufgeschlossen sind, können, solange das rechte Maß nicht überschritten wird, dem Kühnen und Unkonventionellen, das bei aller menschlichen Tragik im Brüsseler Kaufhausbrand steckt, unsere Bewunderung nicht versagen. ‹«
    Der Bärtige hinter der Kassentheke lachte meckernd. »Nichts freut den Literaten mehr als der Tod.«
    »Das ist ein Flugblatt der Kommune 1«, antwortete Richard mit gerunzelter Stirn.
    »Und was macht das in einem Buch aus dem Vor märz?«, fragte ich.
    »Es war in Zeiten vor dem Internet eine Möglichkeit, indizierte Texte in Umlauf zu bringen, versteckt unter einem irreführenden Buchtitel und ersten Kapiteln. Or wells 1984 war so in der DDR jahrelang im Umlauf. Die ses Büchlein hier konnte im Bücherschrank eines APO-Studenten stehen, ohne Verdacht zu erregen.«
    »Da stand es aber nicht, sondern hier!«, bemerkte ich.
    »Das hat mir einer dieser Verrückten untergeschoben!«, sagte Durs. Es klang wie eine Ausrede aus der Mottenkiste.
    Der Mann mit dem geflochtenen Kinnbart lachte wieder. »Ich dachte, sie hätten dich immer nur beklaut, die Linken, nicht beschenkt.« Er hatte eine Schere in der Hand, ließ sie zweimal schnappen und hieb sie ins Kle beband des Postpakets, um es aufzuratschen.
    »›Unsere belgischen Freunde haben endlich den Dreh heraus‹«, las Richard weiter, ›»die Bevölkerung am lusti gen Treiben in Vietnam wirklich zu beteiligen: Sie zün den ein Kaufhaus an, dreihundert saturierte Bürger beenden ihr aufregendes Leben, und Brüssel wird Hanoi.‹«
    »Klingt schwer nach RAF«, sinnierte der Knebelbart. Er war dabei, Bücher mit callgirlrotem Cover neben der Kasse zu stapeln.
    »Die Kommune 1 war nicht die RAF!«, wies ihn Durs zurecht.
    »Aber damit hat es angefangen«, sagte Richard. »Etwa ein Jahr später, im April 1968, kundschafteten Baader, Ensslin und zwei weitere in Frankfurt Kaufhäuser aus und legten in zweien Brandsätze mit Zündzeitverzögerern …«
    Die beiden Buchhändler blickten Richard erschrocken an.
    »Äh … mit Zeitzündern«, korrigierte er sein Strafaktendeutsch, »die um Mitternacht losgingen. Das Feuer richtete nur geringen Schaden an, aber es löste die Sprinkleranlagen aus. Der Sachschaden betrug mehr als eine halbe Million Mark.«
    »Oha!«, sagte ich. »Und so ein brandgefährliches Buch hast du besessen?«
    Durs schlitzte die Augen. Also doch!, dachte er sicht bar, die gehören doch zusammen.
    »In der Tat, es hat mir in den Händen gebrannt!«, sagte Richard. »Der Zynismus der Texte hat mich erschreckt. Bis heute fällt es mir schwer, einzusehen, dass sie ironisch gemeint sind. Damals war ich ein reichlich unpolitischer, desorientierter junger Mensch, der hoffte, seine ersten Semester Jura in Tübingen zu überleben, und da von träumte, in eine schlagende Verbindung aufgenommen zu werden.«
    Durs verzog das Gesicht durchaus verzeihend.
    »Die Medien bliesen zur Jagd auf das, was sie unreife Ignoranten und Kommunisten mit SA-Methoden nannten. Man prügelte auf Demonstranten ein.«
    Wir dachten, es käme noch was, aber Richard schwieg plötzlich.
    »Und da dachten Sie, Sie legen das Buch zu Ursprung zurück, der steht eh mit einem Bein im Gefängnis«, be merkte Durs Ursprung.
    »Nein, ich dachte daran, es zu verbrennen. Das gestaltete sich jedoch schwieriger als angenommen. Bei Nacht ist jedes Feuer hell, bei Tag gucken andere zu, auf der Neckarwiese ist man nie allein, auch im Wald nicht, und zu tief ins Unterholz
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