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Make new Memory oder wie ich von vorn begann (German Edition)

Make new Memory oder wie ich von vorn begann (German Edition)

Titel: Make new Memory oder wie ich von vorn begann (German Edition)
Autoren: René Grandjean
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überdrehten Vokuhila-Frisur und einem schwarzen Zirkusjäckchen lächelt mich an wie ein Kobold.
    „ Are you okay?“, fragt er und zieht an seiner Zigarette.
    „ I am okay, Bono“, hauche ich.
    Bevor mir etwas einfällt, was der Erhabenheit dieses Augenblickes gerecht wird, legt Bono mir eine Hand in den Nacken und zieht mein Ohr ganz dicht an seinen Mund.
    „ You are the future“, flüstert er.
    Sprechen kann ich nicht mehr. Darum braucht die Welt Rockstars! Aus seinem Mund ist diese Plattitüde, diese simple Scheißhausparole wie die
Zehn Gebote
und die finale, unumstößliche Wahrheit allen Seins.
    Ich nicke und schlucke den Kloß in meinem Hals mit Mühe runter. Dieser Mann stirbt heute nicht! Niemand stirbt hier heute! Bono klopft mir auf die Schulter und lässt mich stehen. Ruhigen Schrittes betritt er zusammen mit der größten Band aller Zeiten die Bühne.
    Das Publikum flippt aus.
    Paul Young geht zum Mikro und singt die erste Zeile.
    Bei 2 Min. 40 Sek. beginnt der finale Refrain. In drei Minuten geht die Bombe hoch!
    Das Adrenalin strömt durch meinen Körper. Tunnelblick. Ich bin ein Jäger. Komm schon, Nori! Nimm die Witterung auf. Du hast das Video Tausende Male gesehen. Du kennst die Bücher, die Artikel, jede Reportage über Jan van Schewick. Sie sind deine Anti-Bibel, deine Schlechtenachtgeschichte, dein immerwährendes Halloween. Er ist dein böser Zwilling.
    Ich sehe ihn. Er trägt das gleiche schwarze Crew T-Shirt wie alle anderen. Als er in die Hocke geht, um ein Kabel beiseite zu ziehen, ist sein Rücken so gerade, als würde er ein Korsett tragen. Nur ich weiß, dass es eine Sprengstoffweste ist.
    Geh hinaus auf die Bühne und reiß ihm das Shirt runter!
    Der Beat setzt ein. George Michael singt. Noch 134 Sekunden bis zum großen Knall.
    Plötzlich läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken.
Lieber Gott im Himmel, ich bitte dich: nicht jetzt!
Zu spät. Die Bestie hat mich erwischt. Hat sich von hinten angeschlichen. Sie schnürt mir die Kehle zu, würgt mich. Ich taumle.
Atmen, Nori!
Ich spüre den Blick von siebzigtausend Augenpaaren. Sie blicken tief hinab in meine Seele. Sie sehen meine Geheimnisse, stehlen meine Sehnsüchte. Ich bin nackt und schutzlos. Es ist mir unmöglich, hinaus auf die Bühne zu treten. Unmöglich, eine Warnung auszurufen. Das Bild verschwimmt vor meinen Augen. Mein Blick irrt umher.
    Die erste Reihe der jubelnden Menge jenseits des Grabens vor der Bühne zoomt heran. Ist das nicht der Dicke? Er schwingt seine Krücken. Klaus? Er grinst und signalisiert mit erhobenen Daumen, dass alles super ist. Silvia lächelt mich an, schaut dann schüchtern zur Seite. Jörg reckt die Faust in die Luft und singt aus voller Kehle. Und Bettina? Sie spricht zu mir. Ich kann sie nicht hören, lese ihr die Worte von den Lippen ab.
    „ Du bist ein toller Kerl, Nori!“
    Sogar Frau Engler ist da. Sie fegt den Boden im Rhythmus der Musik. Nach und nach entdecke ich die ganze 8a.
    „ Was macht ihr hier?“, will ich ihnen zurufen. Aber die Musik ist so furchtbar laut.
    Plötzlich weiß ich es – sie sind gekommen, um mich zu unterstützen! Aber wo sind meine Eltern?
    Eine Ohrfeige wirft meinen Kopf zur Seite. Erschrocken blicke ich der Bestie ins Gesicht. Sie ist eine schattenhafte Chimäre. Ihre Klaue drückt mir die Kehle zu. Sie trägt den Kittel meiner Mutter, die Frisur meines Vaters, und lacht wie mein Bruder. Sie trägt das Jackett meines Bruders und schaut so traurig wie mein Vater. Sie singt wie meine Mutter und schweigt wie mein Vater. Sie streicht mir durchs Haar, sie schlägt mich. Sie lacht mich an, sie lacht mich aus. Sie hält mich fest, sie wirft mich zu Boden. Sie richtet mich auf, sie lässt mich fallen.
    Well, tonight, thank God it's them, instead of you.
    Die Musik findet ihren Weg in mein Unterbewusstsein. Nur noch 90 Sekunden.
    Die Bestie weiß das. Sie nimmt mich in ihre Arme, wiegt mich wie ein Baby. Sie riecht nach Öl, nach heißem Fett, nach Zigarette und Parfum. Ich wehre mich, drücke sie von mir weg, aber ihre Haut klebt an mir und zieht dünne Fäden. Die Fäden geraten in Bewegung und umschlingen mich wie Tentakeln.
    Und da entscheide ich, dass es genug ist!
    Meine Angst wird zu Zorn. Ich starre der Bestie ins Gesicht. Ihr Grinsen gefriert und taut. Ich rieche Angst, und es ist nicht meine. Sie will ihre Tentakeln zurückziehen, aber ich habe tausend Arme. Sie windet sich unter dem stählernen Griff meiner tausend Hände.
    Ich weiß es jetzt!
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