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Mailverkehr für Fortgeschrittene

Mailverkehr für Fortgeschrittene

Titel: Mailverkehr für Fortgeschrittene
Autoren: Mela Wolff
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Arbeit? Und was soll das Gerede von Konsequenzen? Du hörst Dich irgendwie anders an. So nachdenklich. Man sollte fast meinen, Dir läge etwas an mir. Lächerlich, ich weiß. Schließlich bilde ich mir nicht ein, in Dein Jagdschema zu passen.
    Deine bevorzugte Version von »I hurt myself today« ist leider grauenhaft. Der Sänger behauptet den Schmerz nur, er fühlt ihn nicht. Ich ziehe Johnny Cash vor. Nicht nur, dass der richtig singen kann. Nein, man merkt auch bei jedem Ton, dass er es mit Herzblut macht. Schau es Dir mal im Internet an. Hör gut zu, wenn er singt:
    »Ich konzentriere mich auf die Schmerzen, das Einzige, das wirklich ist.«
    Das ist es, was dann mit mir passiert: Wirklichkeit.
    Schläge, Schmerzen, sie schalten mein Hirn aus. Nein, falsch. Nicht ganz aus. Es fokussiert sich. Auf einen Punkt. Kein Grübeln mehr, kein Bedauern, kein Hoffen, kein Wünschen. Nur noch brennende, gleißende, bissige Gegenwart.
    Ausgeliefert. Einem Fremden. Nur noch Gefühl sein, nur noch Aufgabe. Hingabe.
    Kein drängendes, peinigendes Ich, das mich nervt. Ich verliere mich und finde mich wieder.
    Hört sich das merkwürdig an? Ich weiß. Kann es ja selbst kaum begreifen. Was ist es, was mich antreibt? Jetzt, nachdem ich angefangen habe und einfach nicht mehr aufhören kann? Was habe ich geweckt, das bisher in mir drin so unruhig geschlummert hat? Komme mir vor wie Frau Jekyll und Fräulein Hyde.
    Gier nach Haut, nach Küssen, nach Schlägen. Aufhören zu denken und nur noch fühlen … sich verlieren, sich auflösen vor Lust. Sex, Eros, Libido?
    Ich war wieder in der Bibliothek und habe ein paar Sachen zusammengetragen. Die Bibliothekarin hat mir zugezwinkert. Vielleicht doch eine alte Kollegin von Birgit?
    Diesmal hat es mich in die Psychologie-Abteilung verschlagen, und natürlich habe ich mir Sigmund, den Altmeister und seine Schüler vorgenommen.
    Für Freud war alles Libido, alles Sex, was uns antreibt. Auch die Kultur.
    C. G. Jung dagegen hat Libido als psychische Energie gesehen. Ein kontinuierlicher Lebenstrieb, ein »Streben nach Etwas«, das sich sowohl auf Affekt, Liebe, Sexualität, Hunger als auch auf Religion und geistige Vorstellungen beziehen kann.
    Hunger. Lebenshunger. Damit kann ich schon eher was anfangen.
    Wonach also strebe ich, was suche ich? Meine Grenzen? Immer mehr, immer härter, bis es nicht mehr geht? Und wo bin ich dann? Habe ich mich dann verloren im Wald des Bösen? Bin gestolpert über Ketten – und jetzt gefangen?
    Was passiert mit meiner Seele, während mein Po blaue Flecken bekommt? In letzter Zeit fühle ich mich so merkwürdig … leer. Befriedigt, ja. Erschöpft. Heiser von meinen eigenen Schreien. Doch, während ich meine Striemen am Hintern mit Melkfett bestreiche (die Variante mit Ringelblumen ist besonders gut), ist mir die ganze Zeit, als könnte ich irgendwo ein Kind leise weinen hören. Sonntagabend und ich werde sentimental. Der Tag in der Woche, an dem ich mich besonders einsam fühle. Da hilft auch Kater kraulen nicht weiter.
    Jung hat übrigens auch von »Persona« und »Schatten« gesprochen. Persona, das ist die Maske, die Du aufsetzt, mit der Du jeden Tag Deiner Umwelt gegenübertrittst, mit der Du funktionierst. Und der Schatten, das ist all das Wilde, Dunkle in Dir, das Du annehmen musst, wenn Du ganz sein willst. Dieses Annehmen ist ein vorwiegend moralisches Problem, das von jedem Menschen beträchtliche seelische Anpassungsleistungen erfordert …
    Oha.
    Ich versuche es. Ich will »ganz« sein. Nicht, dass ich viele Wahlmöglichkeiten hätte. Etwas treibt mich vorwärts, unerbittlich.
    Ich will Schmerzen, um mich zu verlieren. Die Männer im »Fight Club« müssen sich beweisen, dass sie lebendig sind. Ja, ich kenne den Film. Sie halten sich für Revolutionäre, die gegen den Konsum kämpfen, und dabei sind sie doch nur ihren eigenen Trugbildern aufgesessen. Glauben, ein Kerl wäre nur dann ein Kerl, wenn er sich regelmäßig prügelt.
    Und ich? Was glaube ich? Was will ich?
    Am Ende alles: body and soul.
    Kennst Du das Lied »The man in the long black coat« von Bob Dylan? Stell Dir vor: eine kleine Stadt, ein schweigsamer Fremder im langen schwarzen Mantel. Eine Frau, die alles hinschmeißt und einfach mit ihm geht. Ohne sich zu verabschieden. Wer ist er? Der Teufel? Das Abenteuer? Die Liebe? Der Tod? Alles, wirklich alles, scheint besser für diese Frau gewesen zu sein, als das langsame Verrotten in dem kleinen Kaff.
    Der verflixte Mythos vom schweigsamen,
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