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Maigret zögert

Maigret zögert

Titel: Maigret zögert
Autoren: Georges Simenon
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sei unfähig zu menschlichen Beziehungen?«
    »Mit normalen Leuten, mit Leuten unserer Welt.«
    »Weil die Leute, die nicht in Ihrer Welt leben, abnormal sind?«
    »Sie wissen sehr gut, wie ich’s meine. Ich will damit nur ausdrücken, dass die Art, wie er mit ihnen verkehrt, nicht normal ist.«
    »Warum?«
    Es klopfte, und gleich darauf erschien Ferdinand, der seine weiße Weste trug, in der Tür.
    »Einer der Herren möchte Sie sprechen, Monsieur Maigret.«
    »Wo ist er?«
    »Hier im Flur. Er sagte, es sei sehr dringend, und so habe ich mir erlaubt, ihn gleich mitzubringen.«
    In dem halbdunklen Flur sah der Kommissar die Silhouette von Lucas.
    »Gestatten Sie einen Augenblick, Madame Parendon?«
    Er schloss die Tür hinter sich, während sich Ferdinand entfernte und die Frau des Anwalts allein in ihrem Boudoir zurückblieb.
    »Was gibt’s, Lucas?«
    »Sie hat heute Morgen zweimal den Salon durchquert.«
    »Bist du sicher?«
    »Von hier aus können Sie es nicht sehen, aber vom Salon aus sieht man es ganz klar. Ein kranker Mann in der Rue du Cirque sitzt fast den ganzen Tag an seinem Fenster.«
    »Ist er sehr alt?«
    »Nein. Er ist gehbehindert. Etwa fünfzig Jahre alt. Er interessiert sich für alles, was in diesem Haus passiert, und schaut begeistert zu, wenn die Autos, besonders der Rolls, gewaschen werden. Seine Antworten auf nebensächliche Fragen, die ich ihm gestellt habe, waren so, dass man seinen Aussagen vertrauen kann. Er heißt Montagné. Seine Tochter ist Hebamme.«
    »Wann genau hat er sie das erste Mal gesehen?«
    »Kurz nach halb zehn.«
    »Sie ging in Richtung der Büros?«
    »Ja. Er ist mit der Lage der Räume vertrauter als wir. So weiß er zum Beispiel auch Bescheid über die Beziehungen zwischen Parendon und seiner Sekretärin.«
    »Was hatte sie an?«
    »Einen blauen Morgenrock.«
    »Und das zweite Mal?«
    »Weniger als fünf Minuten später hat sie den Salon in der anderen Richtung durchquert. Dabei fiel ihm noch etwas auf. Im Hintergrund des Salons sah er das Zimmermädchen Staub wischen, und sie hat sie nicht bemerkt.«
    »Madame Parendon hat ihr Zimmermädchen nicht gesehen?«
    »Nein.«
    »Hast du Lise verhört?«
    »Ja, heute Morgen.«
    »Sie hat diesen Zwischenfall nicht erwähnt?«
    »Sie behauptet, nichts gesehen zu haben.«
    »Danke, mein Lieber.«
    »Was soll ich tun?«
    »Wartet beide auf mich. Kann niemand die Aussagen dieses Montagné bestätigen?«
    »Nur ein junges Hausmädchen in der fünften Etage, die meint, in derselben Zeit etwas Blaues hinter dem Fenster gesehen zu haben.«
    Maigret klopfte an die Tür des Boudoirs, trat ein und sah Madame Parendon gerade aus ihrem Schlafzimmer herauskommen. Er leerte erst seine Pfeife und stopfte sie frisch, ehe er bat:
    »Wären Sie so liebenswürdig, Ihr Zimmermädchen zu rufen?«
    »Brauchen Sie etwas?«
    »Ja.«
    »Wie Sie wollen.«
    Sie drückte auf einen Klingelknopf. Es vergingen ein paar Minuten in Schweigen, und Maigret, der diese Frau, die er so quälen musste, beobachtete, konnte sich eines gewissen Mitgefühls nicht erwehren.
    In Gedanken wiederholte er den Wortlaut des Artikels 64, von dem in den letzten drei Tagen in diesem Haus so oft die Rede gewesen war.
    Ein Verbrechen oder Vergehen liegt nicht vor, wenn der Angeklagte zum Zeitpunkt der Tat im Zustand der Geistesgestörtheit war oder wenn ihn eine Kraft dazu trieb, der er sich nicht widersetzen konnte.
    Hätte der Mann, den Madame Parendon ihm zuvor beschrieben hatte, zu gegebenem Zeitpunkt in einem Zustand der Geistesgestörtheit handeln können?
    Hatte auch sie psychiatrische Werke gelesen? Oder hatte...
    Lise trat ängstlich ins Zimmer.
    »Sie haben mich gerufen, Madame?«
    »Der Kommissar wünscht Sie zu sprechen.«
    »Schließen Sie die Tür, Lise. Haben Sie keine Angst... Als Sie heute Morgen die Fragen meiner Inspektoren beantworteten, standen Sie sicher noch unter dem Schock der Ereignisse und konnten die Bedeutung ihrer Fragen nicht ganz ermessen.«
    Das arme Mädchen blickte verwirrt vom Kommissar zu ihrer Chefin, die in dem Lehnsessel Platz genommen, die Beine übereinandergeschlagen und sich mit gleichgültiger Miene zurückgelehnt hatte, als ginge sie das alles gar nichts an.
    »Es ist gut möglich, dass Sie vor Gericht erscheinen und unter Eid aussagen müssen. Man wird Ihnen dieselben Fragen stellen. Wenn sich herausstellt, dass Sie gelogen haben, wandern Sie ins Gefängnis...«
    »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen...«
    »Es wurde ein Zeitplan
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