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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler
Autoren: Antonia Michaelis
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hockte, geduckt, die schwarze Strickmütze tief ins Gesicht gezogen, die Stöpsel eines alten Walkmans in den Ohren. Die Zigarette in seiner Hand war beinahe verglüht, und Anna fragte sich, ob er es nicht merkte. Und ob er nicht hätte herüberkommen können, zu Gitta und Hennes, zum Rauchen.
    »Tannatek!«, rief Hennes. »Acht Uhr. Kommst du mit rein?«
    »Vergiss es«, sagte Gitta. »Der hört dich nicht. Lebt in seiner eigenen Welt. Gehen wir.«
    Gitta beeilte sich, Hennes’ langen Schritten die Treppe hinauf zur gläsernen Eingangstür zu folgen, sie waren im gleichen Englischkurs, doch Anna hielt sie auf.
    »Hör mal … es ist wahrscheinlich eine dumme Frage«, begann sie, »aber …«
    »Es gibt nur dumme Fragen«, antwortete Gitta gutmütig.
    »Bitte«, sagte Anna ernst. »Erklär mir den Kurzwarenhändler.«
    Gitta sah zu der Gestalt mit der schwarzen Wollmütze hinüber. »Den kann dir niemand erklären«, sagte sie. »Die halbe Abiturstufe fragt sich, weshalb der in der Elften hergekommen ist. Er ist doch im Deutschkurs 1, genau wie du …«
    »Erklär mir das Wort «, beharrte Anna. »Warum heißt er bei allen so? Der polnische Kurzwarenhändler? Ich habe bisher nie darüber nachgedacht.«
    »Liebes Kind.« Gitta seufzte. »Ich muss wirklich gehen. Die Siederstädt kann Unpünktlichkeit in ihrem Leistungskurs nicht leiden. Und wenn du dein kluges Köpfchen ein wenig anstrengst, kommst du schon darauf, was unser polnischer Freund verkauft. Ich gebe dir einen Tipp: keine Rosen.«
    »Stoff«, sagte Anna und merkte, wie lächerlich das Wort aus ihrem Mund klang. »Bist du sicher?«
    »Du meine Güte, die ganze Schule weiß das«, erwiderte Gitta, ein wenig ungeduldig jetzt. »Anna. Natürlich bin ich mir sicher.« Sie drehte sich in der Tür noch einmal um und zwinkerte. »In letzter Zeit ist er teurer geworden«, sagte sie. Dann winkte sie und verschwand durch die Glastüren nach drinnen.
    Anna blieb allein draußen stehen und kam sich dumm vor. Siewollte wieder an den alten Schlitten mit dem roten Band denken, aber stattdessen dachte sie das Wort »Seifenblase«. Ich lebe, dachte sie, in einer Seifenblase. Die ganze Schule weiß Dinge, die ich nicht weiß. Aber vielleicht will ich sie gar nicht wissen. Und ich werde doch ans Meer fahren, ganz allein, ohne Gitta. Und ich habe es satt, dass sie mich »liebes Kind« nennt, denn im Gegensatz zu ihr weiß ich, was ich will, im Gegensatz zu ihr weiß ich, dass ich nach dem Abi nach England gehe, ich weiß, was ich studieren werde. Und es ist viel kindischer, in schwarzen Klamotten herumzulaufen und sich einzubilden, man würde dadurch schlauer aussehen.
    Und dann, nach der sechsten Stunde, nach einem absolut tödlichen Biokurs, fand sie die Puppe.
    Später dachte sie oft darüber nach, was geschehen wäre, wenn sie sie nicht gefunden hätte. Nichts, wahrscheinlich. Alles wäre für immer so geblieben, wie es war, sie in ihrer Seifenblase, einer schönen und irgendwie auch eigensinnigen Seifenblase – aber kann denn irgendetwas so bleiben, wie es war, wenn man beinahe achtzehn ist? Natürlich nicht.
    Die Kollegstufe besaß einen eigenen Raum, einen schäbigen Raum mit zwei ausrangierten Tischen, einer Menge zu kleinen Holzstühlen und einem alten Sofa sowie einer ständig kaputten Kaffeemaschine. Anna war die Erste, die in dieser Mittagspause ins Kollegstufenzimmer kam. Sie hatte in der Pause versprochen, auf Bertil zu warten, der irgendeinen Zettel von ihr kopieren wollte, irgendetwas wegen Deutsch. Bertil war der typische Zettelverlierer, er war ständig etwas zerstreut und seine unkleidsam dicke Brille nützte ihm dabei nichts. Anna dachte, dass er vermutlich auch in einer Seifenblase lebte, aber seine war von innen beschlagen.
    Sie hätte die Puppe nicht gefunden, wenn sie nicht auf Bertil gewartet hätte. Sie hätte die Puppe nicht gefunden, wenn sie ihre Sachen nicht ausgepackt hätte, um Bertils Zettel zu suchen, und wenn dabei ihr Bleistift nicht unter das Sofa gerollt wäre und wenn –
    Anna bückte sich, um den Bleistift hervorzuholen.
    Und da lag die Puppe.
    Sie lag ganz hinten an der Wand, zwischen Staubflusen und Kaugummipapieren, ein wenig verloren. Anna versuchte, das Sofa von der Wand abzurücken. Es war zu schwer. Unter den durchgesessenen Polstern musste es aus Stein sein, ein Marmorsofa, oder ein Sofa voller schwarzer Weltraumlöcher mit unendlichem Gewicht. Sie legte sich davor auf den Bauch, streckte ihren Arm aus – bekam die
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