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Madrapour - Merle, R: Madrapour

Madrapour - Merle, R: Madrapour

Titel: Madrapour - Merle, R: Madrapour
Autoren: Robert Merle
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Sie mich im Morgengrauen mit ins Heck genommen haben. Also war es kein Traum?«
    »Pst!« sagt sie. »Sprechen Sie nicht darüber. Man hört uns.«
    Ich weiß nicht, wer »man« ist. Der Kreis? Oder der BODEN? Aber gemessen an der Ungewißheit, die mir zu schaffen macht, erscheint mir das unwichtig.
    »Geben Sie mir eine aufrichtige Antwort: lieben Sie mich oder nicht?« frage ich.
    Ihre Augen werden erneut dunkler, und sie antwortet wohlüberlegt, als würde sie in ihrem Innern jedes Wort abwägen: »Ich glaube, Sie zu lieben.«
    »Wann werden Sie dessen sicher sein?«
    »Wenn wir getrennt sein werden.«
    Anlaß genug zum Nachdenken und zu neuen Zweifeln. Aber ich schiebe beides vorläufig beiseite und bleibe beim Dringlichsten.
    »Heute früh haben Sie mich wie einen Fremden behandelt. Warum?«
    Sie beugt sich noch näher zu mir herüber und sagt ganz leise: »Ich stand unter dem Einfluß des BODENS.«
    »Hat er Sie wegen dieser Nacht getadelt?«
    »Nein. Das ist nicht seine Art. Er hat mich wissen lassen, daß meine Empfindung für Sie keine Zukunft hat.«
    »Weil mir so wenig Zeit bleibt, bis man mich an Land setzt?«
    »Ja.«
    »Aber wenn Ihnen selbst eines Tages …«
    Ich spreche nicht weiter. Ich habe nicht den Mut, diesen verschämten Euphemismus auf sie anzuwenden.
    »Das ist nicht vergleichbar«, sagt sie, als ob ihr Überleben nach Jahren und nicht nach Tagen zählte.
    Ich bin zu verwirrt, und vor allem liebe ich sie zu sehr, um sie darauf aufmerksam zu machen. Lieber bitte ich sie, einen Punkt zu erhellen, der mir dunkel erscheint.
    »Was ist dieser BODEN eigentlich, daß er Ihre Empfindungen in solchem Maße zu beeinflussen vermag? Ein Gott?«
    »Oh, nein!«
    Sie überlegt. Ihre Nasenflügel beben, ihr Blick ist ernst, ihr Mund kindlich. So liebe ich sie. Ich verspüre ein großes Bedürfnis, sie in die Arme zu schließen. Aber selbst wenn ich die Kraft dazu hätte, was würde der Kreis sagen? Und würde ich nicht dem BODEN abermals Gelegenheit geben, sie zu tadeln, und sei es nur andeutungsweise?
    Die Stewardess taucht endlich aus ihren Gedanken auf und sagt mit einer Zaghaftigkeit, die mir nicht recht zu ihrem sonstigen Wesen passen will: »Ich habe Angst vor dem Urteil, das der BODEN über mich fällen könnte.«
    Das ist alles. Mehr wird sie nicht sagen, das spüre ich. Und ich muß mich mit diesen Antworten bescheiden, so wenig zufriedenstellend sie für mich sein mögen. Ein ganzer Bereich ihres Wesens hat sich mir offenbart, und ich bin sehr überrascht! Diese Ehrfurcht vor der Meinung des BODENS! Ich kann es kaum glauben! Wenn sie aus eigenem Antrieb handelt, wieso hütet sie dann nicht eifersüchtiger die Autonomie ihrer Empfindungen?
    Um mich zu trösten, sage ich mir, daß man niemals ein Wesen, das man liebt, richtig verstehen kann. Nicht daß es undurchschaubarer wäre als andere. Aber man stellt sich über ein solches Wesen mehr Fragen.
    Mehr noch als mein kurzer Dialog mit Robbie hat mich dieses Gespräch erschöpft. Ich weiß, daß es das letzte sein wird, daß ich bis zum Ende nicht mehr den Mund öffnen werde. Aber es wäre ein Irrtum, zu glauben, daß mich das Gefühl, für immer stumm zu sein, in Verzweiflung stürzt. Mitnichten.
    Bei Einbruch der Nacht hat mir die Stewardess ein zweitesDragee Oniril gegeben. So klein es ist, ich konnte es erst beim zweiten Versuch hinunterschlucken. Die Stewardess hat ihre frischen Lippen auf die meinen gedrückt, und ich bin in eine Art Traum geglitten, wo alles unendlich leicht geworden ist. Meine Sessellehne ist so weit wie nur möglich zurückgeschoben. Da ich mich über die Kälte beklagte, hat die Stewardess Bouchoix’ Decke über meine Beine gelegt. Und jetzt fühle ich mich wohl. Ich habe den Eindruck, rückwärts in einem lauen Meer zu treiben. Kleine Wellen tragen mich empor, und auf meinem Körper spüre ich die doppelte Liebkosung von Sonne und Wind. Obwohl ich für »lange« Augenblicke die Lider senke – was glauben machen könnte, daß ich schliefe –, bin ich mir all dessen bewußt, was um mich her geschieht, und höre alles. So stelle ich fest, daß der Kreis über meinen Zustand keine solchen Bemerkungen macht wie am Abend zuvor über Bouchoix. Er hat gelernt, wahrscheinlich unter der Wirkung des Onirils, den Worten zu mißtrauen. Er hat recht.
    In meiner Euphorie macht es mich froh zu spüren, wieviel Freundschaft ich für den Kreis empfinde. Ja, ich liebe sie alle, sogar Chrestopoulos, ungeachtet seiner scheußlichen
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