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Lügen, die von Herzen kommen: Roman (German Edition)

Lügen, die von Herzen kommen: Roman (German Edition)

Titel: Lügen, die von Herzen kommen: Roman (German Edition)
Autoren: Kerstin Gier
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wäre ganz klar, dass hier nur an den Wochenenden jemand übernachten kann. Du hast morgen Schule, Philipp.«
    »Helena hat Stress mit ihren Eltern.«
    »Den hast du auch, wenn du durchs Abi rasselst. Komm mit ins Bad. Ich werde dich verbinden.«
    Im Badezimmer hätte ich beinahe noch einmal aufgekreischt. Als ich nämlich den Erste-Hilfe-Kasten vom Schrank geholt hatte, erschien ein blasses, mageres Geschöpf mit tiefschwarzen Haaren und gleichfarbenen Ringen unter den Augen in der Tür. Sie trug ein T-Shirt mit aufgedrucktem Totenschädel und dem Schriftzug: See you in hell. Ihre Fingernägel waren schwarz lackiert, und an ihren bleichen Händen klebte Blut. Sie sah aus wie die Todesfee persönlich.
    Am liebsten hätte ich ein Kreuz geschlagen und »Hinweg mit dir, du böser Dämon«, gerufen, aber ich riss mich zusammen. »Hallo, Helena«, sagte ich stattdessen auf gut Glück.
    Die Todesfee sagte nichts.
    »Das ist meine Schwester Hanna«, erklärte ihr Philipp.
    Helena sagte immer noch nichts. Sie starrte mich nur an. Ich starrte zurück und fragte mich, ob die schwarzen Ringe unter ihren Augen verlaufene Wimperntusche waren oder akuter Eisenmangel. Bei genauerer Betrachtung sah sie mehr wie ein abgemagerter Pandabär aus. Ein ziemlich gruseliger Pandabär.
    »Bist du in Philipps Klasse?«, fragte ich, während ich Philipps Wunde mit Desinfektionslösung abtupfte. Er ging auf eine Waldorfschule, und jetzt, in der Dreizehn, gab es nur noch neun Schüler in seiner Klasse.
    Helena sagte nichts.
    »Sie ist vor einem Jahr abgegangen«, antwortete Philipp an ihrer Stelle. »Sie macht eine Ausbildung zur Buchhändlerin.«
    Wahrscheinlich in dem Esoterikbuchladen in der Handtkestraße, Abteilung schwarze Magie. Ich beschloss, sie so schnell wie möglich loszuwerden. »So, so. Dann musst du morgen sicher auch früh raus, was, Helena? Es ist nämlich so, dass Philipps Freunde nur am Wochenende hier übernachten dürfen.«
    Helena reagierte nicht. Ihr Schweigen und ihr stierer Blick fingen an mir auf die Nerven zu gehen.
    »Tut mir Leid, aber du musst jetzt nach Hause«, sagte ich noch nachdrücklicher.
    »Ich hab dir doch gesagt, sie hat Stress mit ihren Eltern«, sagte Philipp.
    »Aber schlafen wird sie doch noch bei ihnen dürfen, oder?«, erwiderte ich. Philipp machte den Mund auf, aber ich fiel ihm ins Wort. Aus Erfahrung wusste ich, dass ich mich so unnachgiebig wie möglich verhalten musste, wenn ich nicht den Rest der Nacht mit unfruchtbaren Diskussionen verbringen wollte. »Andernfalls kannst du ihr gerne deinen Schlafsack leihen, dann wird sie unter der Brücke schon nicht erfrieren.«
    »Boah, ey, Ssseiße, Mann«, ließ sich Helena endlich vernehmen. Sie hatte eine helle Kleinmädchenstimme, und sie lispelte. Ihre niedliche Stimme stand in so krassem Gegensatz zu ihrem Äußeren (und natürlich zu dem, was sie sagte), dass ich misstrauisch nach einem Tonband oder etwas Ähnlichem hinter ihrem Rücken Ausschau hielt. »Deine Ssswester ist ja noch ssslimmer als meine Alten. Und du hast gesagt, sie sei cool.«
    Philipp sah mich vorwurfsvoll an. »Ist sie sonst auch.«
    »Ja, aber erst wieder, wenn du das Abitur bestanden hast«, sagte ich.
    Philipp guckte zwar genervt, aber er begleitete seine neue Freundin ohne weitere Diskussion zur Haustür. Wahrscheinlich war ihm das nur recht so (offensichtlich war der angenehme Teil des Abends schon vorüber), denn sonst hätte er jetzt die »Ich-bin-aber-volljährig-und-kann-tun-und-lassen-was-ich-will«-Nummer abgezogen.
    Ich schloss hinter Helena ab, nachdem sie sich mit einem letzten undeutbaren Blick aus ihren Pandabäraugen verabschiedet hatte.
    »Du hattest auch schon mal einen besseren Geschmack«, sagte ich zu Philipp.
    »Helena ist in Ordnung«, sagte Philipp und lächelte mich überraschenderweise an. »Sie ist ganz anders als alle Mädchen, die ich sonst kenne. Sie beschäftigt sich mit Geschichte, religiösen Ritualen und Philosophie.«
    »Oh je«, sagte ich besorgt.
    Philipp lächelte immer noch. »Danke fürs Verarzten, Hannilein. Gute Nacht.«
    »Gute Nacht«, sagte ich und setzte streng hinzu: »Und keine Tricks: Wenn du Helena durchs Fenster wieder ins Haus lässt, krieg ich das mit. Und dann …«
    »Schon gut«, sagte Philipp.
    Zurück in meinem Zimmer bearbeitete ich sorgenvoll die Blutflecken im Teppich mit Mineralwasser und einer Wurzelbürste. Diese Helena war genau die Sorte Freundin, die man sich für seinen kleinen Bruder nicht wünscht. Wenn
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