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Long Reach

Long Reach

Titel: Long Reach
Autoren: Peter Cocks
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gewesen.
    Ich wog die Medaille in der Hand, als ob sie mich irgendwie mit meinem Bruder verbinden könnte, aber ich fühlte nichts. Vorsichtig faltete ich die Urkunde wieder zusammen und legte die Medaille, noch ganz warm von meiner Hand, zurück in ihre Schachtel.
    Ich warf mich aufs Bett zurück und schloss die Augen. Ein langer Tag war das gewesen und mein Kopf hatte Mühe,diese neuesten Informationen zu verarbeiten. Ich versuchte zu schlafen, aber mein Hirn lief auf Hochtouren. Immer wieder drückte ich auf die Rückspultaste und ließ den letzten Monat noch mal vor mir ablaufen   – wie mein Leben sich verändert hatte, wie Schwermut in die Wohnung gekrochen war und sich wie eine feuchte, graue Decke über Mum und mich gelegt hatte. Tagelang hatte sie kaum gesprochen und nur dagehockt, sich bei zugezogenen Vorhängen das Nachmittagsprogramm angeschaut, wo sich Leute von peinlichen Promis das Haus oder gleich ihr ganzes Leben auf den Kopf stellen ließen.
    Ich zog mir die dünne Decke bis zum Hals und mein eigener Körpergeruch stieg mir in die Nase. Die Bettwäsche war schon einen Monat lang nicht mehr gewechselt worden. Dazu der Saustall in meinem Zimmer   – das war ein Weckruf. Wenn ich jetzt nicht bald den Hintern hochbekam und die Initiative ergriff, steuerten wir hier auf eine Art Super-GAU zu. Es war kaum zu erwarten, dass das alte Mädchen aufwachen und wie durch ein Wunder das Ruder herumreißen würde. Ich will nicht behaupten, dass unser Leben mit Steve ein reiner Ponyhof war, aber er war doch unser Anker gewesen, und den hatten wir verloren.
    Endlich dämmerte ich weg, aber genau die Erinnerungen, die ich eigentlich aus meinem Hirn verbannen wollte, meldeten sich beharrlich zurück: Steve, wie er mit mir Fußball spielte   … wir zu dritt im Urlaub auf der Isle of Wight   … Steve und ich im Garten beim Boxen, wie er mir grinsend sagte, ich würde zuschlagen wie ein Mädchen, und dann seine Deckung so weit offen ließ, dass sogar ich ihn voll erwischen konnte.
    Jedes dieser Bilder schien in Sonnenlicht gebadet. All die Episoden, als Steve völlig ausgehungert und abgekämpft nach Hause gekommen war und tagelang nur gepennt hatte, waren wie ausgeblendet. Die Tage, an denen er nur in der Wohnung rumgelungert, geraucht und vorsichtig durch die Häkelgardinen gespäht hatte. Oder wie er, das war nicht so lang her, unangekündigt aufgetaucht war, besoffen und herumlabernd, mit zittrigen Händen.
    Ich erinnerte mich an diesen Urlaub. Vor ungefähr sechs Jahren hatte Mum uns eine Unterkunft in Ventnor aufgetrieben. Eine Wohnung in einem großen viktorianischen Haus, das nach alten Büchern roch und durch die Meeresnähe ganz feucht war. Steve hatte uns jeden Morgen Eier mit Speck gebraten und wir hatten den ganzen Tag am Strand verbracht, mit Schwimmen und Steinewerfen auf Coladosen, die Steve in der Brandung aufbaute. Ob es jemals geregnet hat, weiß ich nicht mehr   – wahrscheinlich schon.
    Als die Hälfte der Ferien rum gewesen war, war Tony Morris für eine Nacht runtergekommen. Er hatte irgendwas in Portsmouth zu tun gehabt und wollte einfach mal vorbeischauen. Er führte uns zum Dinner in ein Lokal mit Meerblick aus, wir futterten Garnelen und Krebse und ich durfte Cider trinken. Ich erinnere mich, dass Mum glücklich ausgesehen hat und Steve ein bisschen angesoffen Witze riss. Für jeden Außenstehenden mussten wir gewirkt haben wie eine glückliche vierköpfige Familie.
    Steve und Tony waren noch eine Weile im Pub geblieben, als Mum mich zur Wohnung zurückbrachte. Ich erinnere mich, wie die beiden näher zusammenrückten und ihre Unterhaltung auf einmal ganz finster und ernst geworden war.
    Am nächsten Tag reiste Tony wieder ab, aber von da an aßen wir jeden Abend auswärts. Steve bezahlte. Er sagte, er hätte genug von Dosensuppe und Toast in der Ferienwohnung. Er nahm mich zum Angeln mit und in ein Wachsfigurenkabinett, wo es eine Schreckenskammer gab, in der Wachsleute mit glühenden Eisen gefoltert wurden und ein bewegliches Skelett Kirchenorgel spielte. Das hat mich wirklich fertiggemacht.
    Zurück in London tat ich natürlich vor meinen Freunden so, als wäre das Cidertrinken und Folterbesichtigen mit Steve an der Tagesordnung. Ich blähte ihn auf, bis er mindestens drei Meter groß war und eine Rechte hatte, die sogar Mike Tyson umlegen würde.
    Glückliche Tage.
    Gegen vier wachte ich auf. Es war immer noch dunkel und die Decke hatte sich um mich verknotet. Einen Moment lang
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