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Long Reach

Long Reach

Titel: Long Reach
Autoren: Peter Cocks
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zusammenfantasiert hatte, letztlich hatten sie doch einander. Ich wünschte, ich hätte so ein Sicherheitsnetz wie aus ihrem Drehbuch. Und Rachel als Freundin.
    Nach einer Weile kam Mum herein und setzte sich neben mich aufs Sofa. Ihre Augen waren rot gerändert, sie sah mich mit hängenden Mundwinkeln an und ihre Lippen begannen schon wieder zu beben. Sie umarmte mich fest undich spürte, wie ihr ganzer Körper von Schluchzern geschüttelt wurde.
    Sie hatte gewusst, dass es so kommen würde, und sie wollte nicht noch einen Sohn verlieren. Tony hatte ihr gesagt, es sei hier nicht mehr sicher für sie, jetzt, wo auch ich drinhing. Es war schon riskant genug gewesen, wenn Steve hier war, und sein Tod würde zwangsläufig einige Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Mein Hintergrund musste verschleiert, alle Spuren meines bisherigen Lebens mussten übertüncht werden.
    Mum würde zu ihrer Schwester nach Stoke-on-Trent ziehen und ich konnte rauffahren und sie besuchen, wann immer ich wollte. Tony hatte eine Wohnung für mich gefunden. Morgen würde er mich hinbringen.
    Tony bestellte Indisch beim Bringdienst und wir aßen zu dritt am Küchentisch. Im Hintergrund lief immer noch der Fernseher und füllte die Sprechpausen, aber ein paar Lacher brachten wir doch zustande. Ich gab Mum einen Gutenachtkuss und sie presste mich an sich, als ob sie mich nie wieder loslassen wollte. Dann ging ich hoch auf mein Zimmer, vollgestopft mit Hühnchen Tikka Masala und Linsenfladen.
    Einschlafen war unmöglich. Mein Hirn raste und mein Bauch war bis zum Bersten gefüllt. Ich suchte auf meinem iPod nach etwas Entspannendem und fand »Steves Playlist«, die genau das Gegenteil davon war: Clapton, Bowie, Led Zeppelin, Queen, Sex Pistols, Iggy Pop, Primal Scream, Public Enemy, Gorillaz. Songs, die um die zwanzig Jahre zurückreichten und von denen jeder eine andere Erinnerung an Steve heraufbeschwor   – ein bestimmtes Wochenendeoder ein längst vergangenes Weihnachtsfest. Vertraute Klänge, die in meiner Kindheit im Hintergrund gelaufen oder aus seiner verschlossenen Zimmertür gedrungen waren. Ich trug einen von Steves Pullis, und als ich ihn mir über den Kopf zog, stieg mir wieder ein Hauch seines Geruchs in die Nase.
    Ich glaubte nicht an Geister, aber als die Songs mich so überspülten, wusste ich: Wenn man nur genug von jemandem festhielt, seinen Geruch, sein Lieblingsessen, seine Lieblingsmusik, dann konnte man beinahe nachstellen, wie er sich anfühlte. Man konnte seine Anwesenheit spüren. Ich fühlte Steve bei mir im Zimmer, seine Augen auf mir.
    Ich blickte an die Decke, meine Zuflucht seit Kindheitstagen, solange ich denken konnte. Jeder Riss in der Decke, jedes Spinnennetz wirkte vertraut und beruhigend. Und mir wurde klar, dass es nach dieser Nacht mit meiner Kindheit ein für alle Mal vorbei sein würde.

Sechs
    Um zehn holte Tony mich ab. Ich war früh aufgestanden und hatte meine Taschen gepackt. Mir war immer noch ziemlich schlecht, aber das lag wohl eher an meinen Nerven als am Curry. Im Laufe der Nacht war ich immer wieder aus dem Schlaf hochgeschreckt, hatte die Decke angestarrt und Sorgen gewälzt.
    Mum hatte mir Eier mit Speck gebraten, aber ich hatte keinen großen Appetit. Ihr zu Gefallen zwang ich sie mir rein und spülte sie mit einem Becher starkem Tee runter.
    Als Tony aufkreuzte, gab sie sich alle Mühe, keine Szene zu machen, und ich genauso. Sie sagte ihm, er solle auf mich aufpassen, sonst bekäme er es mit ihr zu tun. Tony gelobte es, dann küssten wir sie beide und waren fort.
    Der Berufsverkehr war schon fast vorbei, doch als wir nach Deptford kamen, war New Cross noch immer mit Autos verstopft. Überwiegend gammelige Kleintransporter von Geschäftsleuten aus der Gegend oder glänzende BMWs mit Schwarzen, die ihre Muskeln und Musikanlagen spielen ließen. Ich betrachtete ihre Gesichter und überlegte, was für Jobs sie wohl hatten, und sie starrten eiskalt zurück.
    Das muss unauffälliger werden, dachte ich.
    Tony fuhr runter Richtung Fluss und summte einen grauenhaften Song aus dem Radio mit, der mir langsam schwer auf die Nerven ging. Vor einem großen Apartmenthaus am Ufer hielt er an, einem Neubau aus Stahl, Glas und Holz. Auf einer Seite war ein Schrottplatz, auf dem sich rostige Autowracks türmten. Auf der anderen Seite stand ein weiterer Wohnblock, der glänzend und metallisch in den Himmel ragte, davor eine Phalanx polierter Angeberschlitten. Es war wie ein Frontalcrash der alten und der neuen
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