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Little Bee

Little Bee

Titel: Little Bee
Autoren: Chris Cleave
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auf der neuen Seite lautete ASYLANTEN SCHLACHTEN UNSERE SCHWÄNE. Ich schaute zu dem Wachbeamten, aber er blickte mich nicht an. Dann bewegte er den Arm über die Seite, um die Schlagzeile zu verdecken. Er tat, als müsste er sich am Ellbogen kratzen. Vielleicht musste er sich wirklich am Ellbogen kratzen. Ich begriff, dass ich nichts von Männern wusste, ich kannte nur die Angst vor ihnen. Eine Uniform, die dir zu groß ist, ein Schreibtisch, der zu klein für dich ist, eine Acht-Stunden-Schicht, die zu lang für dich ist, und auf einmal kommt ein Mädchen mit drei Kilo Dokumenten und ohne Motivation, ein anderes mit geleegrünen Augen und einem gelben Sari, so schön, dass du sie nicht lange anschauen kannst, weil sonst deine Augäpfel plopp machen, ein drittes Mädchen aus Nigeria, das wie eine Honigbiene heißt, und eine lärmende Frau aus Jamaika, die lacht wie der Pirat Blaubart. Vielleicht sind das Umstände, unter denen einen Mann schon mal der Ellbogen jucken kann.
    Ich drehte mich noch einmal zu dem Wachbeamten um, bevor wir durch die Doppeltür gingen. Er schaute uns nach. Er sah sehr klein und allein aus mit seinen dünnen Handgelenken im Neonlicht. Das Licht ließ seine Haut grün erscheinen wie eine frisch geschlüpfte Raupe. Die frühe Morgensonne schien durch die Glastür. Der Wachbeamte kniff die Augen vor dem Tageslicht zusammen. Ich nehme an, wir waren nur Silhouetten für ihn. Er machte den Mund auf, als wollte er etwas sagen, hielt aber inne.
    »Was?«, fragte ich. Und mir wurde klar, er wollte sagen, dass es einen Irrtum gegeben hatte. Ich fragte mich, ob wir losrennen sollten. Ich wollte nicht zurück in die Abschiebehaft. Ich fragte mich, wie weit wir kämen, wenn wir losrannten. Ich fragte mich, ob sie uns mit Hunden verfolgen würden.
    Der Wachbeamte stand auf. Ich hörte, wie sein Stuhl über den Linoleumboden schabte. Er stand da und ließ die Arme hängen.
    »Meine Damen?«, sagte er.
    »Ja ?«
    Er sah zu Boden und dann wieder hoch. »Viel Glück«, sagte er.
    Und wir Mädchen drehten uns um und gingen zum Licht.
    Ich stieß die Doppeltür auf und blieb stehen. Das Sonnenlicht ließ mich erstarren. Nach der Abschiebehaft fühlte ich mich so verletzlich, dass ich fürchtete, die hellen Sonnenstrahlen könnten mich entzweibrechen. Ich konnte nicht den Schritt nach draußen machen.
    »Was stehst du da, Lil Bee?«
    Yevette war hinter mir. Ich blockierte die Tür.
    »Einen Moment, bitte.«
    Die frische Luft draußen roch nach nassem Gras. Sie wehte mir ins Gesicht. Der Geruch versetzte mich in Panik. Zwei Jahre lang hatte ich nur Bleichmittel und meinen Nagellack und die Zigaretten der anderen Gefangenen gerochen. Nichts Natürliches. Nichts wie das hier. Mir war, als würde die Erde sich erheben und mich zurückstoßen, wenn ich einen Schritt nach draußen machte. An mir war nichts Natürliches mehr. Ich stand da in meinen schweren Stiefeln, die Brüste flachgedrückt, weder Frau noch Mädchen, ein Geschöpf, das seine Sprache vergessen und eure gelernt hatte, dessen Vergangenheit zu Staub zerfallen war.
    »Was zur Hölle wartest du, Süße ?«
    »Ich habe Angst, Yevette.«
    Yevette schüttelte den Kopf und lächelte.
    »Vielleicht hast recht mit Angst, Lil Bee, bist kluge Mädchen. Vielleicht ich bin zu dumm zum Fürchten. Aber war ich achtzehn Monate hier drin eingesperrt, und glaub nicht, dass ich so dumm und warte noch ein Sekunde länger, nur weil du zitterst und bebst!«
    Ich drehte mich zu ihr um und klammerte mich an den Türrahmen.
    »Ich kann mich nicht bewegen«, sagte ich.
    Da versetzte Yevette mir einen heftigen Stoß vor die Brust, und ich flog nach hinten. Und so berührte ich zum ersten Mal als freie Frau englischen Boden. Nicht mit den Sohlen meiner Stiefel, sondern mit meinem Hinterteil.
    »WU-ha-ha-ha-ha!«, lachte Yevette. »Willkommen in Vereinigte Königreich, ist groooßartig, hm?«
    Als ich wieder zu Atem gekommen war, musste ich auch lachen. Ich saß auf dem Boden, die warme Sonne schien mir auf den Rücken, und ich begriff, dass die Erde mich nicht zurückgestoßen und das Sonnenlicht mich nicht entzweigebrochen hatte.
    Ich stand auf und lächelte Yevette an. Wir alle machten ein paar Schritte weg von den Gebäuden des Abschiebegefängnisses. Im Gehen griff ich unter mein Hemd, als die Mädchen nicht hinsahen, und wickelte den Stoff von meinen Brüsten. Ich warf ihn auf den Boden und trat ihn mit dem Stiefelabsatz in den Dreck. Ich atmete tief die frische, saubere
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