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Little Bee

Little Bee

Titel: Little Bee
Autoren: Chris Cleave
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namens Andrew O'Rourke. Ich traf ihn an einem Strand.
    Die kleine Plastiktüte hielt ich in der Hand, als der Wachbeamte mir sagte, ich solle mich in die Schlange vor dem Telefon stellen. Das erste Mädchen in der Schlange war groß und hübsch. Ihre Methode war Schönheit, nicht Sprache.
    Ich fragte mich, wer von uns die bessere Wahl getroffen hatte, um zu überleben. Dieses Mädchen hatte sich die Augenbrauen ausgezupft und dann mit einem Stift nachgezogen. Das hatte sie getan, um ihr Leben zu retten. Sie trug ein violettes A-Linien-Kleid mit rosa Sternen und Monden darauf. Sie hatte ein hübsches rosa Tuch um die Haare gebunden und violette Flipflops an den Füßen. Ich dachte, dass sie sehr lange in unserem Abschiebegefängnis eingesperrt gewesen sein musste. Man muss nämlich sehr viele Spendenkartons durchsuchen, bis man ein wirklich passendes Ensemble zusammenhat.
    An den braunen Beinen des Mädchens waren viele kleine weiße Narben zu sehen. Ich überlegte, ob diese Narben wohl ihren ganzen Körper bedeckten, so wie die Sterne und Monde ihr Kleid. Das stellte ich mir hübsch vor, und ich bitte euch hier und jetzt um eure Zustimmung, dass eine Narbe niemals hässlich ist. Das wollen uns nur die Narbenmacher einreden. Aber ihr und ich, wir müssen uns zusammentun und ihnen trotzen. Wir müssen alle Narben als schön ansehen. Okay? Das ist unser Geheimnis. Denn glaubt mir, wer stirbt, bekommt keine Narben. Eine Narbe bedeutet: »Ich habe überlebt.«
    Noch ein paar wenige Atemzüge, dann werde ich traurige Worte zu euch sprechen. Aber ihr müsst damit ebenso umgehen wie mit den Narben. Traurige Worte sind auch eine Form von Schönheit. Eine traurige Geschichte bedeutet, die Erzählerin ist am Leben. Ehe ihr euch verseht, wird ihr etwas Schönes passieren, etwas Wunderbares, und dann wird sie sich umdrehen und lächeln.
    Das Mädchen mit dem violetten Kleid und den Narben an den Beinen redete schon in den Hörer. Sie sagte gerade: Hallo, Taxi? Mich abholen ja? Gut. Oh, woher? Ich kommen aus Jamaika, Kollege, weißt du. Wie? Was? Oh, woher jetzt abholen? Warten, bitte.
    Sie legte die Hand über den Hörer, drehte sich zu dem zweiten Mädchen in der Schlange um und sagte: Hör mal, wie heißt Ort, wo wir sind? Das zweite Mädchen sah sie an und zuckte nur mit den Schultern. Sie war dünn, und ihre Haut war dunkelbraun, und ihre Augen waren grün wie ein Geleebonbon, wenn man die äußere Zuckerschicht abgelutscht hat und es vor den Mond hält. Sie war so hübsch, ich kann es gar nicht sagen. Sie trug einen gelben Sari. Sie hatte eine durchsichtige Plastiktüte wie meine, aber es war nichts drin. Zuerst dachte ich, sie wäre leer, und ich dachte, warum trägst du die Tüte bei dir, Mädchen, wenn nichts drin ist? Ich konnte ihren Sari durch die Tüte sehen und entschied, dass sie eine Tüte voller Zitronengelb in der Hand hielt. Das war alles, was sie besaß, als man uns Mädchen freiließ.
    Ich kannte das zweite Mädchen ein bisschen. Wir waren zwei Wochen lang im selben Raum gewesen, aber ich hatte nie mit ihr gesprochen. Sie konnte kein Wort von irgendeinem Englisch. Deshalb zuckte sie nur mit den Schultern und hielt sich an ihrer Tüte voll Zitronengelb fest. Da verdrehte das Mädchen am Telefon die Augen zur Decke, so wie es der Wachbeamte an seinem Tisch getan hatte.
    Das Mädchen am Telefon wandte sich an das dritte Mädchen in der Schlange und fragte: Weißt du, wie Ort heißt, wo wir sind? Doch das dritte Mädchen wusste es auch nicht. Sie stand einfach da und trug ein blaues T-Shirt und blaue Jeans und weiße Dunlop-Green-Flash-Turnschuhe, und sie schaute nur hinunter auf ihre durchsichtige Tüte, und ihre Tüte war voller Briefe und Dokumente. In der Tüte war so viel Papier, zerknüllt und verknittert, dass sie die Tüte mit der Hand zuhalten musste, damit es nicht herausquoll. Nun, das dritte Mädchen kannte ich auch ein bisschen. Sie war nicht hübsch und gut reden konnte sie auch nicht, aber es gibt noch eine Sache, die verhindern kann, dass sie einen früh nach Hause schicken. Dieses Mädchen hatte seine Geschichte aufschreiben und ganz offiziell machen lassen. Am Ende waren Stempel, die in roter Tinte besagten, diese Geschichte ist WAHR. Ich weiß noch, wie sie mir einmal ihre Geschichte erzählte, und sie lautete in
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