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Lilien im Sommerwind

Lilien im Sommerwind

Titel: Lilien im Sommerwind
Autoren: Nora Roberts
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durch. Hope stellte sich vor, dass Faith schmollend zur Decke starrte und die Fäuste so fest geballt hatte, als wolle sie mit den Schatten boxen.
    Hope berührte den Türgriff. Meistens gelang es ihr, Faith aus ihren düst eren Stimmungen herauszuschmei cheln. Sie konnte mit ihr im Dunkeln im Bett kuscheln und Geschichten erfinden, bis Faith lachen musste und ihre Augen wieder trocken waren.
    Aber heute Abend ging es um andere Dinge. Heute Abend ging es um Abenteuer.
    Es war alles geplant, aber Hope ließ die Erregung erst zu, als sie in ihrem Zimmer war und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Sie machte das Licht erst gar nicht an und bewegte sich leise in der vom Mondlicht silbern schimmernden Dunkelheit. Sie zog ihr Baumwollnachthemd aus und schlüpfte in Shorts und T-Shirt. Als sie die Kissen auf dem Bett so hinlegte, dass sie für ihre Kinderaugen aussahen wie ein schlafender Körper, klopfte ihr Herz angenehm heftig.
    Dann zog sie unter dem Bett ihre Abenteuerkiste hervor. Die alte Frühstücksdose mit dem gewölbten Deckel enthielt eine warm gewordene Flasche Coca-Cola, eine Packung Plätzchen, die sie aus dem Küchenschrank stib itzt hatte, ein kleines, verrostetes Taschenmesser, Streichhölzer, einen Kompass, eine Wasserpistole - geladen - und eine rote Plastiktaschenlampe.
    Hope setzte sich einen Moment lang auf den Fußboden. Sie konnte ihre Buntstifte riechen und das Puder, mit dem sie nach dem Baden eingepudert worden war. Sie konnte, ganz leise, die Musik aus dem Wohnzimmer ihrer Mutter hören.
    Als sie ihr Fenster aufzog und vorsichtig das Mückengitter herausnahm, lächelte sie.
    Geschickt und gelenkig schwang sie ein Bein über das Fensterbrett und fand Halt in der Pergola, an der sich die Glyzinie emporrankte.
    Die Luft war dick wie Sirup, und ihr heißer, süßer Duft füllte Hopes Lungen. Sie kletterte die Pergola hinunter, zog sich dabei einen Splitter in den Finger und sog zischend die Luft ein. Aber sie kletterte unbeirrt weiter, die Augen fest auf die erleuchteten Fenster im Erdgeschoss gerichtet. Ich bin nur ein Schatten, dachte sie, und niemand wird mich sehen.
    Sie war Hope Lavelle, die junge Spionin, und um Punkt zweiundzwanzig Uhr fünfunddreißig hatte sie ein Treffen mit ihrer Kontaktperson, ihrer Partnerin.
    Sie musste ein Kichern unterdrücken. Atemlos sprang sie zu Boden.
    Um ihre Erregung noch zu steigern schoss sie wie ein Pfeil hinter die dicken Stämme der großen alten Bäume, die das Haus beschatteten, und spähte von dort zu dem schwachen blauen Licht, das aus dem Fenster drang, wo ihr Bruder fernsah, und zu dem hellen gelben Schein der Fenster, hinter denen ihre Eltern den Abend verbrachten.
    Wenn man mich jetzt entdeckt, ist das eine Katastrophe für meinen Auftrag, dachte sie, während sie gebückt durch den Garten lief, durch den süßen Duft der Rosen und des nachtblühenden Jasmins. Das musste sie um jeden Preis verhindern - schließlich ruhte das Schicksal der Welt auf ihren Schultern und denen ihrer tapferen Partnerin.
    Die Frau in dem Kind schrie auf: Geh zurück, o bitte, geh zurück ! Aber das Kind hörte sie nicht.
    Hope holte ihr pinkfarbenes Fahrrad hinter den Kamelien hervor, wo sie es am Nachmittag versteckt hatte, legte ihre Kiste in den weißen Korb und schob das Rad über den Rasen neben der kiesbedeckten Auffahrt, bis das Haus und die Lichter verschwunden waren.
    Dann radelte sie wie der Wind und stellte sich dabei vor, das hübsche kleine Fahrrad sei ein schnelles Motorrad. Die weißen Plastikwimpel an der Stange flatterten im Wind und schlugen fröhlich aneinander.
    Sie flog durch die schwüle Luft, und der Chor der Grillen und Zikaden wurde zum brummenden Motorgeräusch ihrer schnellen Maschine.
    An der Straßengabelung bog sie links ab und sprang dann vom Rad, um es von der Straße in den schmalen Graben zu schieben, wo die Büsche es verdeckten. Obwohl das Mondlicht hell genug war, nahm sie die Taschenlampe aus ihrer Kiste. Die lächelnde Prinzessin Leia auf ihrer Armbanduhr sagte ihr, dass sie eine Viertelstunde zu früh war. Ohne Angst und ohne nachzudenken bog sie auf den schmalen Pfad in den Sumpf ein.
    Ins Ende des Sommers, ins Ende der Kindheit. Des Lebens.
    Hier war alles voller Geräusche - von Wasser, Insekten und kleinen Nachttieren. Das Licht drang in schmalen Streifen durch das Dach der Schirmakazien und der Zypressen mit den tropfenden Moosflechten. Hier wurden die Magnolienblüten dick und fett und verströmten einen betörenden
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