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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit
Autoren: A Forna
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hineinlöffelte. Die neue Schwester war sehr jung und sehr hübsch; es fiel ihm schwer, nicht zu merken, wie sehr sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Wie hieß sie? Balia. Balia bot ihm eine Tasse Kaffee an, blinzelte und lächelte verlegen. Er erwiderte ihr Lächeln, dankte ihr, wobei er sie bei ihrem Namen anredete, verließ den Raum mit seinem Kaffee, trank einen Schluck und spürte, wie die Hitze ihm in den Magen schlug und Augenblicke später der Zucker ins Blut ging. Der Zustrom von Verwundeten riss nicht ab. Sah man vom Kaffee ab, lebte Kai seit Tagen ausschließlich von Adrenalin. Alles in allem war das Krankenhaus so ziemlich der sicherste Ort, an dem man sich zurzeit aufhalten konnte. Die Zeugnisse der Kämpfe, die sich auf den Straßen abspielten, lagen überall auf dem Fußboden herum.
    Kai stakste zwischen den Sterbenden und Verwundeten herum und suchte nach seinem nächsten Patienten, nach jemandem mit Überlebenschancen. Das medizinische Personal musste seine Ressourcen, seine Fähigkeiten, seine Energie rationieren. Kais Augen suchten die Reihen von in sich zusammengesackten blutenden Menschen ab, schätzten Verletzungen, Erfolgsaussichten ab, sonderten jene aus, die schon zu erledigt aussahen. Ein Soldat mit weggeschossenem Unterkiefer trug die Uniform der ausländischen Einsatztruppen. Kais Augen glitten über ihn hinweg und kehrten, von der Natur der Verletzung angezogen, wieder zurück. Der Mann saß aufrecht, den Rücken an der Wand, nickte und gestikulierte und versuchte, zu dem einheimischen Reporter, der über ihm stand, etwas zu sagen. Er griff in die Tasche und zog ein Dokument heraus, einen Ausweis oder ein Foto, und reichte es dem anderen Mann. Und das Verblüffende, Widersinnige: Über dem Loch, das einmal sein Gesicht gewesen war, schienen die Augen des Soldaten tatsächlich zu lächeln.
    Kai stand, den Kaffee in der Hand, beim Anblick des Mannes vorübergehend erstarrt, mitten auf dem Korridor da, als er ganz in der Nähe Schüsse hörte. Er war zu erschöpft, zu sehr auf seine Aufgabe konzentriert, um irgendetwas zu spüren, das Angst auch nur geähnelt hätte. Er drehte sich um und sah die Eindringlinge in das Gebäude stürmen. Der Reporter, der noch vor einem Augenblick keinen Meter von Kai entfernt gestanden hatte, war plötzlich verschwunden. Zum ersten Mal seit Tagen herrschte Stille, ein kurzer Augenblick der Stille.
    Dann, ein einziges Wort.
    »Du!«
    Der Mann mit dem Gewehr richtete den Lauf auf Kais Brust. Balia, die gerade aus dem Aufenthaltsraum herauskam, wurde von einem der Bewaffneten gepackt. Kai hatte noch immer den Kaffee in der Hand, als sie alle auf den Wagen zugingen. Er hatte keine Angst. Aber jemand stieß ihn ständig von hinten, und das machte ihn wütend. Er drehte sich um und wischte den Gewehrlauf beiseite, dabei verschüttete er Kaffee über seinen Kittel. Er warf Balia einen Blick zu, die mit vor Angst erstarrtem Gesicht, mit kleinen widerwilligen Schritten ging.
    Niemand machte sich die Mühe, ihnen die Augen zu verbinden. Niemand trug eine Maske. Das hat mit Sicherheit etwas zu bedeuten, dachte Kai, während sie durch die schweigende Stadt fuhren. Er fragte sich, ob er allmählich Angst haben sollte.
    Sie erreichten ein – teilweise ausgebranntes – altes Regierungsgebäude. Die Patienten waren alle Krieger. Jung, halbwüchsig, die Arme, Beine, Eingeweide voll von Blei. Die Rebellen sprachen in vielen verschiedenen Sprachen miteinander, von denen Kai einige erkannte, andere nicht. Der Befehlshaber, zu dem Kai geführt wurde, war vielleicht siebzehn. Kai hörte, dass die Umstehenden ihn mit Amos anredeten. Kai erklärte Amos, er könne ohne Versorgungsmaterial nichts tun. Während Amos sich mit seinen Adjutanten beriet, wartete Kai und schaute sich um. Im Raum waren kaum noch Möbel übrig, das Präsidentenporträt wies Bajonetteinstiche auf, jemand hatte Hüpfkästchen auf den Teppich gemalt. Kai wurde wieder in den Fond des Wagens gesteckt und zu einer Apotheke gefahren, wo seine Begleiter sich nach seinen Instruktionen mit Morphium, sterilem Verbandsmaterial, Gummihandschuhen, Kochsalzlösung und Injektionsspritzen und -kanülen eindeckten.
    Eine schwere Holztür diente als OP -Tisch. Stundenlang arbeitete Kai mit Balia an seiner Seite. Sie arbeiteten gut zusammen, effizient, auch wenn Balias Hände nicht aufhörten zu zittern. Erstaunlicherweise schaffte es Kai, sich in seiner Arbeit zu verlieren, seine Umgebung und die Umstände zu vergessen und
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